Berlin, Uber Arena, 1. Juli 2025 – Wenn Nine Inch Nails auftreten, überlassen sie nichts dem Zufall. Auch nicht den Moment vor dem ersten Ton. Schon beim Einlass wabert ein monoton-düsterer Soundteppich in Endlosschleife durch die Halle – ein kalter, synthetischer Puls, der gemeinsam mit flackernd rotem Licht eine Atmosphäre schafft wie in einem Maschinenraum kurz vor der Überhitzung. Willkommen in der industriellen Fiktion.

Zwei B-Stages durchbrechen das gewohnte Arena-Layout: eine zentral im Innenraum, eine weitere ganz am hinteren Ende der Halle. Auf letzterer eröffnet Boys Noize den Abend. Ein Set, das wirkt wie ein Rohschnitt aus dem Berghain: ungeschliffen, kompromisslos, körperlich. Kein Aufwärmen, keine Anbiederung – nur ein pulsierender, mechanischer Rhythmus, der sich wie Presslufthammer durch den roten Nebel frisst. Die Halle steht sofort unter Strom.
Punkt 20:30 endet sein Set in einem ekstatischen Soundausbruch. Im gleichen Moment hebt sich der Vorhang an der mittleren B-Stage. Trent Reznor sitzt allein am Flügel – unbewegt, konzentriert, ganz im Jetzt. Kein Pathos, kein Wort. Nur das fragile Intro von „A Minute to Breathe“, das sich wie ein Riss in die Stille legt. Nach und nach betreten die anderen Musiker die Bühne, der Klang wächst, verdichtet sich, wird greifbar. Drei Stücke lang hält Reznor die Halle in kontrollierter Spannung – dann verlagert sich das Geschehen auf die Main Stage.
Was jetzt folgt, ist kein Konzert im klassischen Sinn, sondern ein akribisch durchkomponiertes Gesamterlebnis aus Sound, Licht und Struktur. „Wish“ detoniert wie eine Ladung Sprengstoff im Innenraum – präzise getimt, brutal effektiv. Jeder Song sitzt, jeder Übergang ist chirurgisch gesetzt. Die 3D-Soundkulisse wirkt wie eine Welle aus kaltem Stahl – mal atmosphärisch weit, mal scharfkantig und frontal. „Copy of A“ verwandelt sich in ein visuelles Delirium: Schattenspiele, Laser, Stroboskope – keine Lichtshow, sondern ein choreografierter Tanz mit der Netzhaut.
Zur Mitte des Sets steht die Band abermals auf eben dieser mittleren B-Stage. Diesmal zusammen mit Boys Noize. Es folgen drei Tracks, elektronisch aufgebohrt, rhythmisch verdichtet, ohne dabei den Druck zu verlieren. Eine Fusion aus Reznors düsterer Ästhetik und Boys Noize’ technischer Brutalität. Songs 10 bis 13 markieren damit den experimentellsten Block des Abends, ohne den Gesamteindruck zu stören.
Danach verschiebt sich das Geschehen wieder zurück auf die Main Stage. Im vierten und finalen Akt verwandelt sich „Closer“ in eine düstere Sexhymne aus Fleisch und Licht, „The Perfect Drug“ rast wie ein Drogenflash durch die Halle, „Head Like a Hole“ explodiert mit maximaler Wucht. Zum Abschluss steht die Verletzlichkeit von „Hurt“ im Raum.
Improvisation? Gibt es nicht. Und fehlt auch nicht. Das hier ist kein offenes Experiment, sondern ein durchgeplanter Absturz ins Innere einer perfekt laufenden Mechanismus. Reznor dirigiert mit der Präzision eines Neurochirurgen – unnahbar, fokussiert, in totaler Kontrolle. Zwischen Industrial, Noise, Ambient und verzerrtem Rock bleibt kein Platz für Zufall, aber Raum für maximale Intensität.
Um 22:15 ist Schluss. Ohne Zugabe, ohne große Worte. Die Setlist? Ein gestochen scharfer Querschnitt durch über drei Jahrzehnte kontrollierter Eskalation. Jeder Song ist da, wo er sein muss. Kein Wunsch bleibt offen, kein Moment verflacht, keine Energie verpufft.
Nine Inch Nails in Berlin? Kein Konzert. Eine dystopische Klanginstallation in Überauflösung. Hart, präzise, vollkommen unerbittlich. Genau so muss es sein.
Titelbild aus dem Archiv: Coen Rees
Nine Inch Nails – Setlist
Berlin, Uber Arena – 01.07.2025
Act 1 – B-Stage (Trent & Atticus)
1. A Minute to Breathe (Reznor & Ross Cover)
2. Ruiner (teilweise akustisch)
3. Piggy (Nothing Can Stop Me Now)
Act 2 – Main Stage
4. Wish
5. March of the Pigs
6. Reptile
7. The Lovers
8. Copy of A
9. Gave Up
Act 3 – B-Stage (mit Boys Noize)
10. Vessel (Techno-Remix)
11. Only (Techno-Remix)
12. I Do Not Want This (Techno-Remix, erste Live-Performance seit 2018)
13. Sin (Techno-Remix)
Act 4 – Main Stage (Finale)
14. Somewhat Damaged
15. Heresy
16. Closer
17. The Perfect Drug
18. Burn (mit Band-Introductions)
19. Head Like a Hole
20. Hurt
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