Das Berliner Olympiastadion, ein Bauwerk aus düsteren Zeiten, war gestern Abend Kulisse für ein Konzert, das weit mehr war als bloße Rockunterhaltung. Bruce Springsteen, der mittlerweile 75-jährige “Boss”, kehrte mit seiner E Street Band nach Berlin zurück – nicht, um Nostalgie zu bedienen, sondern um ein deutliches Zeichen zu setzen. Wer dachte, er würde sich auf alte Klassiker beschränken, wurde direkt in den ersten Minuten eines Besseren belehrt.

Noch bevor der erste Akkord erklang, nutzte Springsteen die Bühne für ein politisches Statement: Die amerikanische Regierung bezeichnete er als „korrupt, inkompetent und verlogen“. Keine verklausulierte Botschaft, sondern eine klare Kampfansage – vor 68.000 Menschen. Und dieses Maß an Ernsthaftigkeit zog sich durch den gesamten Abend.
Der Opener „Ghosts“ war passend gewählt: ein Lied über Verlust, Erinnerung und das Weitermachen. Es folgte „Land of Hope and Dreams“, ebenfalls mehr als nur ein Songtitel – eher ein Gegenentwurf zum politischen Klima in den USA. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt war klar: Dies wird kein bloßes Greatest-Hits-Feuerwerk, sondern ein Abend mit Haltung.
Natürlich fehlten sie nicht, die Klassiker, die das Publikum zum Mitsingen und Tanzen brachten: „No Surrender“, „The Promised Land“, „Hungry Heart“ – aber dazwischen immer wieder Brüche. Nachdenkliche Songs wie „Long Walk Home“, in dem Springsteen offen von seiner Angst um die Demokratie sprach, oder „Rainmaker“, das er bissig Donald Trump widmete. Es war ein Balanceakt zwischen Entertainment und politischer Mahnung, den Springsteen wie kaum ein anderer beherrscht.
Ein besonderer Moment: „My City of Ruins“, begleitet von einer eindringlichen Ansprache über Zusammenhalt und Verlust. Dass der Boss diese Songs nicht einfach abspult, sondern in jedem Ton spürbar macht, dass sie ihm persönlich etwas bedeuten, unterscheidet ihn von vielen anderen, die mit dem Etikett “Legende” durch die Arenen tingeln.
Im letzten Drittel dann die erwartete Eskalation: „Born in the U.S.A.“ (wieder einmal völlig missverstanden von Teilen des Publikums), „Born to Run“, „Dancing in the Dark“. Und als würde er dem Abend noch einen historischen Rahmen geben wollen, beendete Springsteen das Konzert mit Bob Dylans „Chimes of Freedom“ – auf Deutsch angekündigt, gewidmet den „Fans aus Ost-Berlin“, in direkter Anspielung auf sein legendäres Konzert von 1988, das damals als eines der kulturellen Vorzeichen für die Wende galt.
Musikalisch war das alles solide, punktuell überragend – insbesondere die E Street Band spielte routiniert, aber nie gelangweilt. Man spürt, dass hier Profis auf der Bühne stehen, die das Zusammenspiel seit Jahrzehnten perfektioniert haben. Dennoch: Es ging gestern Abend nicht primär um Virtuosität. Es ging um Haltung. Um einen Musiker, der seine Popularität nutzt, um Missstände anzusprechen. Ohne Pathos, aber mit Wucht.
Wer sich einen gemütlichen Rockabend erhofft hatte, dürfte sich überfordert gefühlt haben. Wer bereit war, sich auf einen politischen und emotionalen Trip einzulassen, erlebte eines der eindrucksvollsten Konzerte dieses Sommers.
Fazit:
Springsteen ist nicht einfach nur ein Musiker. Er ist ein Chronist, ein Mahner, ein unbequemer Zeitzeuge. Und Berlin war der passende Ort für seine Botschaft: Vergesst nicht, was auf dem Spiel steht. Rockmusik kann mehr sein als Klang – sie kann Haltung haben. Gestern Abend hat sie es bewiesen.
Setlist
1. Ghosts
2. Land of Hope and Dreams
3. Death to My Hometown
4. No Surrender
5. Two Hearts (Tour‑Debüt)
6. Out in the Street
7. Lonesome Day
8. Rainmaker (dediziert an „Our Dear Leader“)
9. The Promised Land
10. Hungry Heart
11. The River
12. Youngstown
13. Murder Incorporated
14. Long Walk Home (eingeleitet als „Prayer for my country“)
15. House of a Thousand Guitars (solo, akustisch)
16. My City of Ruins
17. Because the Night (Patti Smith Cover)
18. Wrecking Ball
19. The Rising
20. Badlands
21. Thunder Road
Encore
22. Born in the U.S.A.
23. Born to Run
24. Seven Nights to Rock (Moon Mullican Cover, Tour‑Debüt)
25. Bobby Jean
26. Dancing in the Dark
27. Tenth Avenue Freeze‑Out
28. Twist and Shout (The Top Notes Cover)
29. Chimes of Freedom (Bob Dylan Cover, gewidmet Ost‑Berlin 1988)
30. Song from Tape: This Land Is Your Land (Woody Guthrie)
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