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Jehnny Beth – You Heartbreaker, You (Album 2025)

Jehnny Beth legt mit You Heartbreaker, You ein intensives zweites Soloalbum vor, das sich zwischen Industrial, Post-Punk und Noise bewegt. Neun Stücke, produziert mit Johnny Hostile im gemeinsamen Studio 20L07 in Frankreich, zeigen eine Künstlerin, die ihre Stimme zwischen Wut und Verletzlichkeit gefunden hat.

Bekannt wurde Beth als Sängerin von Savages. Die Band veröffentlichte zwei kompromisslose Alben (Silence Yourself, Adore Life) und galt schnell als Hoffnungsträgerin des Post-Punk-Revivals. Nach dem Ende der Band öffnete Beth ihre Musik für andere Einflüsse. Schon To Love Is To Live (2020) klang offener, fragmentierter, persönlicher. You Heartbreaker, You geht diesen Weg weiter, aber mit härteren Mitteln.

Der Einstieg Broken Rib beginnt mit einem metallisch kreisenden Riff, das sich in eine düstere Fläche schiebt. Beths Stimme springt zwischen heiserem Flüstern und eruptivem Ausbruch. Der Song wirkt bedrängend, ohne sich im Lärm zu verlieren. Die Produktion ist klar, aber rau. Out Of My Reach setzt auf eine treibende Basslinie und punkige Ausbrüche. Die Stimme bleibt im Vordergrund, nie geschönt, aber präzise platziert.

Reality ist der direkteste Track des Albums. Ein aggressiver Rhythmus, unterlegt mit synthetischem Knistern, lässt wenig Raum zum Atmen. Beths Gesang ist frontal, fast schon kalt. Die Produktion erinnert stellenweise an frühen Industrial – schnörkellos, funktional, laut.

Mit High Resolution Sadness wechselt die Klangfarbe. Der Song beginnt elektronisch reduziert, wird dann von verzerrten Gitarren überlagert. Die Dynamik bleibt zentral: Leise Passagen kippen ins Lärmende, nur um dann wieder ins Fragmentarische zurückzufallen.

Beth schreibt über emotionale Abhängigkeit, Sexualität, Machtverhältnisse und Selbstverlust. Oft offen, selten metaphorisch. In einer Zeile heißt es:
“Your rules of love / Are different from / My twisted mind / Sitting in a corner / Yeah, it could be sexier / If you went down on me / But no one ever loves me.”

Das ist weder Pose noch Kalkül, sondern Teil einer Haltung, die sich durch das gesamte Album zieht. Beth beobachtet nicht, sie stellt aus. Ihr Schreiben bleibt nah an Körper und Erfahrung, ohne ins Tagebuchhafte zu kippen.

You Heartbreaker, You ist kein thematisch geschlossenes Werk, wirkt aber dennoch konzentriert. Die Stücke kreisen um Kontrollverlust, um Beziehungen, in denen Nähe immer auch als Bedrohung empfunden wird. Die Sprache ist direkt, die Musik oft konfrontativ.

Beth steht mit dieser Platte abseits aktueller Trends. Ihr Sound orientiert sich nicht am gegenwärtigen Popverständnis, sondern an ästhetischer Klarheit und persönlicher Dringlichkeit. Statt weicher Übergänge gibt es harte Schnitte. Statt Hooks liefert sie Reibung.

Jehnny Beth Biografie

Mit der Band Savages machte sich Jehnny Beth einen Namen als kompromisslose Performerin zwischen Post-Punk, Kunst und politischer Haltung. Ihre Solokarriere zeigt eine Künstlerin, die ihre Ausdrucksformen kontinuierlich erweitert.

Frühe Jahre und künstlerische Prägung

Geboren 1984 als Camille Berthomier in Poitiers, Frankreich, wächst Jehnny Beth in einem künstlerisch geprägten Elternhaus auf. Ihre Mutter ist Schauspielerin, der Vater Theaterdirektor. Schon früh kommt sie mit Literatur, Musik und Performancekunst in Kontakt. Mit 8 Jahren beginnt sie Klavierunterricht, später studiert sie klassisches Gesang und Schauspiel.

Diese frühe künstlerische Disziplin und der enge Bezug zum Theater prägen auch ihr späteres Auftreten als Musikerin: Jede Geste wirkt kalkuliert, jede Pose bewusst gesetzt. Gleichzeitig entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen körperlicher Präsenz und emotionaler Verletzlichkeit, ein zentrales Merkmal ihrer späteren Arbeit.

Erste Projekte: John & Jehn

Anfang der 2000er Jahre zieht Beth nach London und gründet mit dem französischen Musiker Nicolas Congé alias Johnny Hostile das Duo John & Jehn. Musikalisch bewegt sich das Projekt zwischen Art Rock und Lo-Fi-Pop, stark beeinflusst von The Velvet Underground und französischem Chanson. Zwei Alben erscheinen: John & Jehn (2008) und Time For The Devil (2010).

Obwohl das Duo in der britischen Indie-Szene Beachtung findet, bleibt der große Durchbruch aus. Wichtiger ist rückblickend, dass sich hier bereits die kreative Partnerschaft zwischen Jehnny Beth und Johnny Hostile etabliert, eine Konstellation, die bis heute zentrale Bedeutung für ihre Arbeit hat.

Savages: Der Bruch mit dem Mainstream

2011 entsteht aus einer spontanen Idee die Band Savages. Beth trifft auf Gitarristin Gemma Thompson, später kommen Ayşe Hassan (Bass) und Fay Milton (Schlagzeug) dazu. Von Anfang an ist das Projekt als Gegenentwurf zur damaligen Musiklandschaft gedacht: kein Indiepop, keine Nostalgie, kein ironisches Spiel. Stattdessen eine kompromisslose Rückbesinnung auf die Wucht und Dringlichkeit von Post-Punk.

Die erste Single Husbands erscheint 2012, kurz darauf das Debütalbum Silence Yourself (2013). Der Sound erinnert an Siouxsie and the Banshees, Bauhaus oder Joy Division – dennoch wirkt er nicht retro, sondern hochaktuell. Savages klingen scharf, rhythmisch kontrolliert und emotional geladen.

Die Band erfährt schnell internationale Aufmerksamkeit. Live-Auftritte sind intensiv, fast ritualhaft. Es geht nicht um Unterhaltung, sondern um Konzentration, um Kontrolle, um Machtverhältnisse. In einer Zeit, in der viele Bands auf Lockerheit und Zugänglichkeit setzen, wirken Savages wie ein Anachronismus und genau das macht ihren Reiz aus.

Mit dem zweiten Album Adore Life (2016) gelingt es der Band, ihre Ästhetik weiterzuentwickeln, ohne sie aufzuweichen. Die Texte sind offener, das Songwriting mutiger, aber der Gestus bleibt unangepasst. Statt bloßer Wut rückt nun das Thema Liebe in den Vordergrund – jedoch nicht als romantisches Ideal, sondern als politisches und körperliches Spannungsfeld.

Die Band positioniert sich klar feministisch, ohne sich vereinnahmen zu lassen. In Interviews spricht Beth über Identität, Begehren und Autonomie, oft unter Verweis auf französische Philosophie oder feministische Literatur. Savages verkörpern eine Haltung, kein Image.

Nach einer intensiven Welttournee legt die Band 2017 eine unbestimmte Pause ein. Ein offizielles Ende wurde nie verkündet, ein Comeback ist bislang nicht erfolgt.

Solo: To Love Is To Live (2020)

Nach dem Rückzug von Savages beginnt Jehnny Beth mit der Arbeit an ihrem ersten Soloalbum. To Love Is To Live erscheint 2020 und zeigt eine andere, experimentellere Seite der Künstlerin. Der Sound ist weniger gitarrenlastig, dafür stärker elektronisch geprägt. Mit dabei sind unter anderem Atticus Ross (Nine Inch Nails), Romy Madley Croft (The xx) und Joe Talbot (Idles).

Beth nähert sich auf dem Album persönlichen Themen wie Verletzlichkeit, Sexualität, Tod und Kontrolle mit einer Bildsprache, die zwischen dystopischem Realismus und poetischer Abstraktion schwankt. Die Songs wirken wie innere Monologe, unterbrochen von Ausbrüchen und Rückzügen.

Auch die visuelle Sprache des Albums ist auffällig: Videos, Pressefotos und Liveauftritte sind streng inszeniert, oft in Schwarz-Weiß, mit klarem Licht-Schatten-Kontrast. Beth positioniert sich einmal mehr als Gesamtkünstlerin, die Musik, Bild und Text eng miteinander verwebt.

Parallel zur Musik baut Beth ihr künstlerisches Portfolio aus. Sie arbeitet als Schauspielerin (unter anderem in Bruno Dumonts France), ist Gastgeberin der Musiksendung Echoes auf Arte, moderiert eine eigene Radioshow auf Beats 1 und veröffentlicht 2020 gemeinsam mit Johnny Hostile das Buch C.A.L.M: Crimes Against Love Memories, eine Mischung aus Fotoband und literarischer Selbstbefragung.

Ihre Arbeiten überschneiden sich häufig thematisch: Es geht um Körper, Begehren, Macht und Identität. Beth schreibt aus einer Perspektive, die weder rein weiblich noch queer oder binär ist. Sie entzieht sich einfachen Zuschreibungen, ohne sie zu negieren.


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