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Rosalía sprengt mit Konzeptalbum “Lux” die Genregrenzen

Mit dem Track „Berghain“ kündigte Rosalía ihr viertes Studioalbum Lux an. Und verabschiedet sich damit endgültig von gängigen Genregrenzen und Mainstream-Pop.

Statt auf die bewährte Mischung aus Reggaeton, Pop und Flamenco zu setzen, präsentiert sich die katalanische Künstlerin als orchestrale Visionärin. „Lux“ ist ein Werk von monumentalem Anspruch, inspiriert von weiblichen Heiligen, inszeniert in 13 Sprachen und orchestriert von der London Symphony unter der Leitung von Pulitzer-Preisträgerin Caroline Shaw. Es ist keine einfache Kost und genau das ist der Reiz.

Während der Pop-Mainstream nur noch auf maximale Zugänglichkeit und algorithmische Wiedererkennbarkeit setzt, macht Rosalía das genaue Gegenteil: In einem Podcast-Interview bezeichnete sie „Lux“ selbst als bewusste Gegenbewegung zum schnellen Konsum in sozialen Medien.

Die Hörer müssen sich auf das Album einlassen, ihm ihre volle Aufmerksamkeit schenken. Mit dieser Haltung setzt sie ein Zeichen: In einer Zeit, in der Musik oft als Hintergrundrauschen dient, fordert „Lux“ Konzentration und Geduld. Und macht das Album-Format wieder aufregend. Statt einem Album mit 2-3 Hit-Singles und ein bisschen Füllmaterial hat Rosalía ein Konzeptalbum geschrieben.

Das Album ist in vier musikalische „Bewegungen“ unterteilt, die lose auf den Lebensgeschichten verschiedener weiblicher Heiliger basieren. Der spirituelle Überbau ist spürbar, wird aber nie zum einengenden Dogma. Vielmehr dient das religiöse Vokabular als metaphorisches Gerüst, um existenzielle und persönliche Erfahrungen zu verhandeln, nicht zuletzt das Ende einer Beziehung, das in Songs wie „La Perla“ durch beißende Ironie deutlich wird.

Musikalisch lässt sich „Lux“ kaum verorten. Es gibt orchestrale Ausbrüche, sakrale Choräle, glitchige Elektronik und gelegentlich sogar Autotune. Schon der Opener „Focu ‘Ranni“ beginnt mit einer Klangkaskade, in der sich Streichersätze, verzerrte Vocal-Samples und perkussive Ausbrüche überlagern. Die elektronische Produktion wirkt dabei nicht wie ein stilistischer Kontrast zur Klassik, sondern wie eine Erweiterung des Instrumentariums. Der Pop ist nicht verschwunden, sondern sublimiert: eingängige Melodien tauchen auf, lösen sich aber oft wieder in dissonanten Flächen auf, wie in „Sauvignon Blanc“, einer der zugänglichsten Kompositionen des Albums.

Ein zentrales Stück ist „Berghain“, eine bizarre, fast schon überdrehte Kollaboration mit Björk und Yves Tumor. Während Rosalía opernhaft singt, rezitiert Tumor Mike Tysons berüchtigte Tirade aus einem Box-Interview, eine absurde, fast verstörende Szene, eingebettet in ein bombastisches Arrangement aus Orchester, Noise und Industrial-Beats. Björks Stimme scheint über allem zu schweben, körperlos, geisterhaft. Es ist ein Stück, das weniger eine Erzählung bietet als eine Klanginstallation, ein audio-visuelles Kopfkino.

Dass Rosalía auf „Lux“ in insgesamt 13 Sprachen singt, darunter Deutsch, Mandarin, Ukrainisch, Latein, Arabisch und Okzitanisch, ist keine Spielerei, sondern Teil ihres künstlerischen Selbstverständnisses. Die Polyphonie ihrer Musik spiegelt sich in der sprachlichen Vielfalt.

Rosalía arbeitet hier mit dem Prinzip der Irritation. Sie dekonstruiert gängige Hörgewohnheiten, zerlegt Genres in Einzelteile und fügt sie in neuer Form zusammen. In „Reliquia“ trifft eine minimalistische Michael-Nyman-artige Streicherfigur auf ein rhythmisches Stottern, das an frühe Aphex-Twin-Stücke erinnert. In „Jeanne“ verschmelzen Streicher, Fado-Gesang und wordless vocals zu einem Sog aus Emotion und Ornament. Und in „De Madrugá“ erreicht das Album seinen dramatischen Höhepunkt: Nach einem ruhigen Beginn schwillt das Orchester plötzlich an, die Harmonie kippt, der Gesang changiert zwischen religiöser Inbrunst und verzweifeltem Pathos.

Die Frage, ob „Lux“ sich noch als Pop-Album bezeichnen lässt, stellt sich am Ende nicht mehr. Zwar landen Songs wie „Berghain“ auf globalen Streaming-Playlists, doch das Werk als Ganzes entzieht sich dem schnellen Konsum. Es verlangt Zeit, Aufmerksamkeit und Offenheit und belohnt mit einem Hörerlebnis, das sich tief eingräbt.

Rosalía – Biografie

Rosalía Vila Tobella wurde am 25. September 1992 in Sant Esteve Sesrovires geboren, einer Kleinstadt nahe Barcelona. Aufgewachsen in einem nicht-musikalischen, aber kulturinteressierten Umfeld, kam sie früh mit der Musik des spanischen Südens in Berührung.

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Ausbildung in klassischem Flamenco

Rosalía begann ihre musikalische Laufbahn mit einer intensiven Ausbildung im traditionellen Flamenco-Gesang. Sie studierte an der Escola Superior de Música de Catalunya in Barcelona, wo sie sich auf Cante Flamenco spezialisierte Ihre Abschlussarbeit war dem Album El Mal Querer gewidmet, das sie gemeinsam mit dem Produzenten El Guincho realisierte und das auf einem anonymen Manuskript aus dem 13. Jahrhundert basierte. Die Geschichte einer toxischen Liebesbeziehung diente als narrative Grundlage für ein Album, das flamencotypische Gesangstechniken mit moderner Produktion verband.

Der internationale Durchbruch

Mit El Mal Querer (2018) gelang Rosalía der internationale Durchbruch. Das Album, obwohl auf Spanisch und tief in lokalen Traditionen verankert, wurde weltweit rezipiert. Der Song „Malamente“ wurde zu einem globalen Hit und zeigte, dass sich traditionelle spanische Musikstile durchaus mit urbanen Pop- und R&B-Elementen verbinden lassen. Rosalía wurde zum Symbol einer neuen, selbstbewussten Generation spanischer Künstlerinnen, die sich kulturelle Referenzen aneignen und zugleich transformieren.

Diese Aneignung blieb jedoch nicht ohne Kritik. Insbesondere in Andalusien wurde ihr vorgeworfen, kulturelles Kapital zu nutzen, ohne selbst Teil der entsprechenden sozialen Kontexte zu sein. Rosalía selbst argumentierte stets mit künstlerischer Freiheit und verwies auf die Universalität musikalischer Ausdrucksformen.

Motomami und die Dekonstruktion des Pop

2022 veröffentlichte Rosalía ihr drittes Album MOTOMAMI, das sich deutlich vom vorherigen Werk unterschied. Anstelle eines konzeptuellen Überbaus oder narrativen Bogens setzte sie auf Fragmentierung, Spontaneität und eine offene Struktur. Die Tracks bewegten sich frei zwischen Reggaeton, Hyperpop, Jazz, Ballade und Industrial-Anleihen. „Saoko“, „Bizcochito“ oder „Hentai“ brachen mit klassischen Songstrukturen und ließen sich stilistisch kaum einordnen.

MOTOMAMI wurde von der Kritik weltweit gelobt. Das Album galt als Beweis dafür, dass Popmusik auch im Zeitalter algorithmischer Homogenität radikal, eigensinnig und unberechenbar sein kann. Rosalía wurde damit zur Ausnahmeerscheinung in einem zunehmend formatierten Popbetrieb. Ihr Spiel mit Identität, Sprache und Sound wurde zum Markenzeichen. Sie inszenierte sich bewusst ambivalent: mal hyperfeminin, mal maskulin codiert, mal spirituell, mal körperlich.

Kollaborationen und interdisziplinäre Projekte

Neben ihrer Soloarbeit hat Rosalía immer wieder mit Künstlerinnen und Künstlern unterschiedlichster Disziplinen gearbeitet. Musikalisch reichen die Kollaborationen von Travis Scott, Billie Eilish und J Balvin bis hin zu Frank Ocean, mit dem sie laut eigenen Aussagen über Jahre hinweg an unveröffentlichtem Material gearbeitet hat. Auch die Zusammenarbeit mit Björk, Yves Tumor oder Arca zeigt, dass Rosalía sich bewusst an der Schnittstelle von Pop und Avantgarde positioniert.

Darüber hinaus bewegt sie sich zunehmend im Umfeld der bildenden Kunst. Ihre Videoclips, etwa zu „De Aquí No Sales“ oder „A Palé“, verweisen auf ästhetische Traditionen von Performancekunst, Modefotografie und zeitgenössischem Tanz. Designer wie Rick Owens, Jean Paul Gaultier oder Palomo Spain sind regelmäßig Teil ihrer visuellen Konzepte. 2025 kündigte sie an, mit dem Album Lux ein interdisziplinäres Werk zu schaffen, das neben Musik auch Installationen und museale Formate umfasst.


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