Zum Inhalt springen

Mark Pritchard & Thom Yorke – Tall Tales (Album 2025)

Thom Yorke und Mark Pritchard liefern mit Tall Tales ein elektronisches Endzeitmärchen für eine Welt, die längst aus den Fugen geraten ist.

Entstanden während der Pandemie und veröffentlicht beim traditionsreichen Label Warp, entwickelt das Album eine düstere Klangsprache aus abstraktem Techno, kühler Lyrik und halluzinogenen Bildwelten.

Bereits die erste Single „Back In The Game“, visuell umgesetzt vom australischen Künstler Jonathan Zawada, machte deutlich, worum es geht: Eine Parade aus monströsen Kreaturen, dargestellt in grellen Farben, marschiert zur symbolischen Vernichtung von Kunst – ein Sinnbild für kulturellen und gesellschaftlichen Verfall. Yorke kommentiert die Szenerie lakonisch mit einem „back to 2020 again“ und verweist damit auf die kollektive Krise, aus der das Projekt geboren wurde.

Seit seinem Außenseiter-Selbstbild in „Creep“ ist Thom Yorke fasziniert von Monstern – als Ausdruck psychischer Zustände, gesellschaftlicher Spannungen oder politischer Bedrohungen. Zusammen mit dem visuellen Partner Stanley Donwood hat er im Laufe der Jahre eine ganze Galerie unheimlicher Wesen erschaffen, die immer wieder das Artwork von Radiohead-Alben bevölkern.

Auf Tall Tales scheint diese Bildwelt erstmals konsequent klanglich umgesetzt: Tracks wie „A Fake In A Faker’s World“ wirken wie der Soundtrack zur Machtübernahme der Maschinen, während Yorkes Stimme oft nur noch als kalter Nebel über der elektronischen Kulisse liegt. Der Einfluss von Warp-Künstlern wie Aphex Twin oder Autechre ist deutlich spürbar, gleichzeitig bleibt Yorkes Gesang auch hier das emotionale Zentrum.

Die Zusammenarbeit mit Pritchard, der in den 1990er-Jahren das Label Evolution mitbegründete und mit Projekten wie Global Communication Maßstäbe im Ambient setzte, ist kein Zufall. Bereits 2011 remixte Pritchard den Radiohead-Song „Bloom“, 2016 sang Yorke auf Pritchards Album Under The Sun den Track „Beautiful People“. Beide Künstler verbindet die Suche nach Klang als emotionaler Ausnahmezustand: Musik, die alles abschaltet, die Zeit und Raum auflöst. Auf Tall Tales zeigt sich das in Songs wie „Bugging Out Again“, wo Yorkes Stimme durch rotierende Lautsprechereffekte gejagt wird, oder im von Eiseskälte durchdrungenen „Ice Shelf“, das sich in glitchigen Melodiebögen entlädt, wie ein Gletscher, der in Zeitlupe zerbricht. Immer wieder tauchen maritime Metaphern auf: Boote, Strömungen, Ertrinken – Hinweise auf ein kollektives Unbewusstes, das langsam untergeht.

Die Texte bewegen sich oft an der Grenze zwischen Lyrik, Paranoia und Digitalsprech. „This Conversation Is Missing Your Voice“ klingt wie ein Fragment aus einer Künstlichen Intelligenz, die den Kontakt zur Realität verloren hat, während „Gangsters“ mit Zeilen wie „Business is now picking up / things are really looking up“ den Irrsinn ökonomischer Phrasen ironisiert. In „Happy Days“ bricht das Album kurzzeitig in fast kabarettistische Ironie aus: Auf einem militärischen Beat skandieren Yorke und Louisa Revolta „death and taxes“, eine fast groteske Hymne auf die alltägliche Last der Schulden. Doch der ironische Abstand täuscht nicht darüber hinweg, dass die Grundstimmung von Tall Tales eher von Kontrollverlust und Entfremdung geprägt ist.

Musikalisch bleibt das Album trotz seiner stilistischen Vielfalt kohärent. Es schwankt zwischen ambienter Ruhe und rhythmischer Zersetzung, zwischen konkretem Gesang und aufgelöster Sprache. Der vielleicht faszinierendste Track ist „The Men Who Dance In Stags’ Heads“, dessen Instrumentierung aus Harmonium, Oboe, Säge und Glocken an einen rituellen Volksgesang erinnert. Yorke klingt hier wie ein Lou Reed im Delirium, der Text ist inspiriert von Benjamin Myers’ Roman The Gallows Pole. Es ist einer der wenigen Momente, in denen die Vergangenheit nicht als zerstört, sondern als Quelle einer anderen Perspektive erscheint. Das Unheimliche wird hier nicht zum Feind, sondern zur Möglichkeit einer Wiederverbindung mit etwas Tieferem, etwas Dauerhaftem.

Das letzte Stück „Wandering Genie“ entlässt das Album schließlich in eine fast meditative Auflösung. Yorkes Stimme verliert sich in flüchtigen Loops, als würde sie im Nebel verschwinden. Es bleibt ein Gefühl von Unsicherheit, von Entfremdung – und doch auch von künstlerischer Konsequenz. Tall Tales ist kein politisches Manifest, kein Aufruf zur Umkehr, sondern ein klanggewordener Ausdruck der Einsicht, dass die Dinge längst außer Kontrolle geraten sind.


Tonspion Backstage Pass

In eigener Sache: Wir möchten unsere Social Media Profile löschen und unabhängig von nerviger Bannerwerbung werden. Und dazu brauchen wir dich: Unterstütze unsere Arbeit und hol dir den Tonspion Backstage Pass ab 2 Euro/Monat.
Sobald wir genügend Mitglieder haben, können wir wieder unabhängig von den großen Plattformen arbeiten.