Von Ideal bis 2raumwohnung, von NDW bis Elektro-Pop: Die Humpe-Schwestern haben die deutsche Musiklandschaft über Jahrzehnte hinweg mitgeprägt.
40 Jahre Debütalbum „Humpe&Humpe“, 45 Jahre Debütalbum „Ideal“, 45 Jahre Debütalbum „Neonbabies“, 25 Jahre „2raumwohnung“ und 20 Jahre „Ich&Ich“ – Inga und Annette Humpe feiern 2025 eine ganze Reihe von Jubiläen, die mit einigen Re-Releases gefeiert werden. Im rbb gaben die Humpe-Schwestern gemeinsam Auskunft über ihre erstaunliche Karriere.
Frühe Jahre: Kindheit zwischen Konditorei und Klavier
Annette (geb. 1950) und Inga Humpe (geb. 1956) wachsen in Herdecke bei Dortmund auf. Die Familie betreibt eine Konditorei, der Vater liebt die Comedian Harmonists, hält aber die Beatles zunächst für „Krach“. Später kann er sich zu einem „schönes Lied“ durchringen, als er „Yesterday“ hört. Die musikalische Sozialisation der beiden Schwestern verläuft in einem Umfeld, das wenig akademisch geprägt ist, aber von einem ausgeprägten Willen zur Förderung ihrer Kinder bestimmt wird.
„Unsere Eltern waren aus dem Krieg. Die mussten relativ schnell arbeiten und haben alles gegeben, damit wir eine gute Ausbildung bekommen“, erinnert sich Inga im rbb-Interview. Die Rebellion gegen diese Fürsorge kommt früh: „Mit 17 Jahren haben wir gesagt: Unsere Eltern können uns nicht mehr helfen. Und leider haben wir sie das auch spüren lassen.“
Ideal: Annette Humpe und der Sound der frühen 80er
1974 zieht Annette Humpe nach Berlin und studiert an der Hochschule der Künste. In der Hauptstadt beginnt ihre musikalische Karriere zunächst mit der Band Neonbabies, die sie gemeinsam mit ihrer Schwester gründet. Doch es ist ein anderes Projekt, das sie schlagartig bekannt macht: Ideal.
Ideal wird 1980 zur Speerspitze der Neuen Deutschen Welle. Mit Songs wie „Blaue Augen“ und „Eiszeit“ liefert die Band prägnante, reduzierte Popmusik mit Haltung. Annette ist nicht nur Sängerin, sondern auch Hauptsongwriterin und Produzentin, in einer Zeit, in der Frauen in dieser Rolle noch eine Seltenheit sind. Sie schreibt die Texte, komponiert, arrangiert und spielt Klavier. „Ich war bei Ideal die einzige Songwriterin und musste dann oft diskutieren, was da wie arrangiert wird. Ich wollte das nicht auch noch mit Inga besprechen. Ich wollte einfach mal machen – und zwar so, wie ich es wollte“, erklärt sie rückblickend.
Das Debütalbum der Band erscheint im Juni 2025 komplett neu gemischt. Die Instrumente wurden sogar teilweise neu arrangiert.
Inga beschreibt diese Zeit offen als schwierig: „Das war für mich wirklich schwierig, als Annette so erfolgreich war mit Ideal und wir mit den Neonbabies ein bisschen herumdümpelten. Das waren richtige Schmerzen.“
Trotz der Herausforderungen bleibt Inga aktiv, entwickelt sich weiter, schreibt eigene Songs und findet ihre Ausdrucksform abseits des Schattenwurfs der älteren Schwester. Die Phase markiert ihren eigenständigen Einstieg in das Popgeschäft und legt die Basis für spätere Erfolge.
DÖF: Mit „Codo“ zum Mainstream-Erfolg
Nach der Neonbabies-Zeit feiert Inga Humpe endlich ihren ersten großen kommerziellen Durchbruch mit dem Projekt DÖF – kurz für Deutsch-Österreichisches Feingefühl. Gemeinsam mit dem österreichischen Kabarettisten Joesi Prokopetz und dem Musiker Rudi Dolezal entsteht ein satirisches Elektro-Pop-Projekt, das die NDW auf humorvolle Weise persifliert.
1983 erscheint der Song „Codo (…düse im Sauseschritt)“ – ein dadaistischer Ohrwurm, in dem Inga Humpes kindlich-naiver Gesang und der einfache Synthie-Beat auf ein breites Publikum treffen. Der Titel erreicht Platz 1 in Deutschland, Österreich und den Niederlanden und verkauft sich über eine Million Mal.
„Codo“ wird zum Sommerhit und bleibt bis heute eines der bekanntesten Lieder der 80er-Jahre aus dem deutschsprachigen Raum. Der kreative Umgang mit Sprache und Klang kündigt bereits an, was Inga später bei 2raumwohnung weiter perfektionieren wird.
DÖF ist zwar nur ein kurzlebiges Projekt, aber stellt den Wendepunkt dar, nach dem Inga sich wieder verstärkt ernsthafteren musikalischen Projekten zuwendet.
Humpe & Humpe: Die gemeinsame künstlerische Erkundung
1985 veröffentlichen Annette und Inga Humpe ihr gemeinsames Album „Humpe • Humpe“. Es erscheint auf Englisch – eine bewusste Abkehr von der NDW, deren kommerziellen Ausverkauf sie kritisch sehen. „Wir hatten einfach genug von dem Ganzen“, sagt Inga. „Besonders, als es nur noch ultrawitzig wurde. Da brauchte man erst mal Abstand.“
Annette formuliert es drastischer: „Es ist wie damals beim Punk. Irgendwann kommt der Kapitalismus und verballert eine Strömung so sehr, dass sie sich ins Gegenteil kehrt und billig wird.“ Die Musik auf „Humpe • Humpe“ ist beeinflusst von britischem Synthpop, elegant und international ausgerichtet. Die stilistische Loslösung vom NDW-Label gelingt, der kommerzielle Erfolg bleibt jedoch überschaubar.
Im Rückblick ist das Projekt ein Ausdruck künstlerischer Freiheit. Ein Versuch, sich nicht in eine Rolle pressen zu lassen, sondern neue musikalische Wege zu beschreiten. 2025 erscheint eine 40th Anniversary Edition des Albums mit unveröffentlichten Bonustracks und einem Remaster, das das Werk neu zugänglich macht.
Produzentin mit Vision: Annette Humpe im Studio
Nach Ideal zieht es Annette zunehmend hinter die Kulissen. Ihre Produzentenphase bezeichnet sie heute als den wichtigsten Abschnitt ihrer Karriere: „Die Produzentenphase war viel länger und entspricht mir auch mehr.“ Der Erfolg mit Ideal öffnet Türen zur Studioarbeit – Türen, durch die sie entschlossen geht und sich in einem männlich dominierten Feld behauptet.
Sie arbeitet als Produzentin extrem erfolgreich mit Rio Reiser, Die Prinzen, Udo Lindenberg, Lucilectric („Mädchen“) und später mit Max Raabe. Ihre Produktionen sind geprägt von Klarheit, Struktur und dem Mut, Künstlern Raum zu lassen. Für viele Musikerinnen wird sie zum Vorbild, gerade weil sie nicht im Rampenlicht steht, sondern durch musikalisches Handwerk und Haltung überzeugt.
2raumwohnung: Inga Humpe erfindet sich neu
Während Annette nur noch im Hintergrund wirkt, startet Inga in den 2000er-Jahren mit dem Projekt 2raumwohnung neu durch. Gemeinsam mit Tommi Eckart entsteht ein Mix aus elektronischem Pop, lässiger Urbanität und reflektierten Texten. Hits wie „36 Grad“ oder „Wir trafen uns in einem Garten“ sind nicht nur in den Charts, sondern auch in den Clubs zu hören. 2002 treten sie im Berliner Ostgut, dem Vorläufer des Berghain auf.
„Für mich ist natürlich 2raumwohnung das Projekt, womit ich mich am meisten und längsten wohlfühle“, erklärt Inga. „Und wo auch immer noch Freiräume sind.“ Ihre Rolle als Performerin findet sie in dieser Phase neu: zwischen Melancholie, Tanzbarkeit und popkulturellem Feingefühl. Inga schreibt Texte, gestaltet den Sound mit und bleibt so unabhängig, wie es in der Popindustrie nur wenigen gelingt.
Ich + Ich: Pop-Renaissance mit Adel Tawil
2004 kehrt auch Annette überraschend ins Rampenlicht zurück, mit einem neuen Projekt, das sie gemeinsam mit dem Sänger Adel Tawil gründet. Ich + Ich kombiniert elektronische Produktion mit deutschsprachigem Mainstream-Pop. Die Songs handeln von Beziehungen, Selbstzweifel, Aufbruch und treffen einen Nerv.
Bereits das Debütalbum „Ich + Ich“ verkauft sich über eine halbe Million Mal, der Nachfolger „Vom selben Stern“ erreicht mehrfach Platin. Hits wie „Stark“, „So soll es bleiben“ oder „Vom selben Stern“ machen Ich + Ich zu einem der erfolgreichsten Pop-Projekte der 2000er-Jahre.
Annette bleibt meist im Hintergrund, meidet Live-Auftritte. Die Bühne überlässt sie Tawil, denn sie selbst sei keine Rampensau und meidet die Öffentlichkeit so gut es geht. Stattdessen konzentriert sie sich auf das Songwriting und die Produktion. Mit Ich + Ich gelingt ihr der Spagat zwischen Qualität und Massenwirksamkeit.
Feministische Vorbilder und die späte Anerkennung
Auch wenn sie nie laut dafür gekämpft haben, die Humpe-Schwestern gelten längst als feministische Ikonen. Junge Künstlerinnen kommen heute zu ihnen und sagen, wie sehr sie von ihrer Arbeit und ihrem selbstbewussten Auftreten geprägt wurden.
Ob als Musikerinnen, Produzentinnen oder einfach als eigenwillige Künstlerpersönlichkeiten: Annette und Inga Humpe haben Popmusik in Deutschland ganz wesentlich mitgeprägt. Und es lohnt sich, nicht nur die Hits anzuhören, sondern auch die vielen Projekte, die nie die verdiente Aufmerksamkeit erhalten haben.
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