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Kae Tempest erzählt auf neuem Album von Identität, Wandel und Widerstand

Das fünfte Studioalbum von Kae Tempest trägt keinen Titel, der auf große Themen hindeutet, keine programmatische Phrase, keinen Verweis auf Politik oder Poesie, sondern referenziert nur sich selbst.

★★★★☆

Stattdessen heißt es schlicht Self Titled. Ein klares Statement für ein Werk, das sich radikal dem eigenen Ich widmet. Tempest, der 2020 sein Coming-out als nicht-binäre Person hatte und Anfang 2025 öffentlich machte, als trans Mann zu leben, nutzt das Album als Plattform, um diesen Übergang künstlerisch wie emotional zu verarbeiten. Dabei bleibt er seiner Haltung als sozialkritischer Beobachter treu, erweitert diese aber um eine intime Dimension, die in dieser Offenheit neu ist für Tempests Diskografie.

Identität im Fokus, nicht als Konzept, sondern als Erfahrung

Bereits im eröffnenden Stück I Stand On The Line formuliert Tempest eine zentrale Erfahrung der letzten Jahre: das Ringen mit einer Identität, die lange verdrängt wurde, weil sie „too big to look at square on“ war. Die Zeile steht exemplarisch für den Ton des Albums: persönlich, aber nie selbstmitleidig, verletzlich, aber mit klarem Blick auf die gesellschaftlichen Kontexte, die diese Verletzlichkeit überhaupt erzeugen. Tempest schreibt hier nicht über sich, um sich zu inszenieren, sondern um sichtbar zu machen, was viele trans Menschen erleben, oft jedoch im Verborgenen bleibt.

Zwischen Reimstruktur und Lebensrealität: Lyrik als politischer Akt

Die Sprache ist das Herzstück von Self Titled, wie schon in den vorherigen Alben, die zwischen Spoken Word, Rap und Poesie oszillierten. Doch hier gewinnt sie an Schärfe und Dringlichkeit. In Statue In The Square setzt Tempest auf düstere Grime-Elemente, sirenenartige Synths und ein schleppendes Piano-Riff, das an die bedrohliche Atmosphäre früher NWA-Produktionen erinnert. Die Zeile „They never wanted people like me round here / But when I’m dead, they’ll put my statue in a square“ bleibt hängen als bitterer Kommentar über gesellschaftliche Vereinnahmung posthumer Sichtbarkeit, aber auch als selbstbewusste Kampfansage.

Diese Form der Selbstvergewisserung zieht sich durch das gesamte Album. In Know Yourself führt Tempest ein Zwiegespräch mit seinem früheren Ich, die alte Stimme aus einem Sample, die neue Stimme verändert durch Hormontherapie. Die klangliche Differenz ist Teil der Erzählung: Es ist ein Übergang, den man hört, fühlt und versteht. In der Gegenüberstellung dieser beiden Versionen von Kae liegt eine Tiefe, wie sie nur wenige im Pop derzeit auszuloten wagen.

Musikalische Vielfalt mit Höhen und Brüchen

Produziert wurde Self Titled erneut von Fraser T. Smith, der schon an The Line Is A Curve (2022) beteiligt war. Während dort die Musik eher zurückhaltend blieb, um Tempests Texte wirken zu lassen, ist Self Titled musikalisch opulenter, manchmal fast überbordend. Streicherflächen, Gospel-Elemente und Synthie-Pop wechseln sich ab, ohne durchweg kohärent zu wirken. Das Stück Sunshine on Catford, eine Zusammenarbeit mit Neil Tennant von den Pet Shop Boys, steht exemplarisch dafür: knallige 80er-Synths, ein fast hymnischer Refrain, der sich anfühlt wie ein bewusst gesetzter Bruch mit dem Rest des Albums. Der Song funktioniert als utopische Geste, als Versuch, trotz aller Schwere einen Lichtblick zu setzen wirkt gleichzeitig aber wie ein Fremdkörper im ansonsten düster-nüchternen Klangbild.

Stärker eingebettet ist dagegen der Beitrag von Young Fathers auf dem Track Breathe. Hier treffen zwei Stimmen aufeinander, die nicht nur musikalisch, sondern auch ideologisch verwandt wirken. Die rohe Energie der schottischen Band ergänzt Tempests introspektive Lyrics mit einer kollektiven Dringlichkeit. Es ist ein Moment, in dem die Einzelgeschichte Teil eines größeren Zusammenhangs wird.

Gesellschaftliche Zustandsbeschreibungen mit persönlichem Filter

Trotz der sehr persönlichen Themen verliert Tempest nie den Blick für das größere Ganze. In Hyperdistillation beschreibt er das Nebeneinander von Wohlstand und Elend in einer Sprache, die dokumentiert, ohne zu denunzieren. Eine Zeile wie „A man dies sleeping rough outside uninhabited penthouses“ ist präzise, fast journalistisch, aber durch den musikalischen Kontext wirkt sie umso eindringlicher. Bless The Bold Future schließlich kreist um die Frage, ob es überhaupt noch verantwortbar sei, Kinder in eine zerstörerische Welt zu setzen. Statt plattem Pessimismus findet Tempest auch hier eine Haltung, die zwischen Hoffnung und Resignation balanciert.

Was dieses Album besonders macht, ist seine Fähigkeit, das Private und das Politische ineinander zu verschränken, ohne in Parolen oder Pathos zu verfallen. Die Wut über transfeindliche Hetze, soziale Ungleichheit und psychische Belastung ist immer da, doch Tempest begegnet ihr nicht mit Rückzug, sondern mit Poesie. Das macht Self Titled zu einem Werk, das weit über die queere Community hinaus Bedeutung entfalten kann.

Eine neue Stimme, ein neues Selbstverständnis

Tempests Stimme hat sich verändert nicht nur inhaltlich, sondern buchstäblich. Die tiefere Tonlage, Ergebnis der Transition, gibt den Tracks eine neue Schwere, manchmal auch eine gewisse Verletzlichkeit. Aber gerade das trägt zur Unmittelbarkeit des Albums bei. Man hört hier nicht nur eine neue Stimme, sondern auch ein neues Selbstverständnis: weniger verkopft, dafür unmittelbarer, dringlicher, klarer.

Self Titled ist kein lautes Album. Es ist kein Manifest, kein Schlachtruf, sondern eine Einladung zum Zuhören.


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