Künstliche Intelligenz trifft Britpop: Warum Pulp mit ihrem KI-generierten Musikvideo eine Debatte auslösten und was Nick Cave dazu sagt.
Als Pulp im Frühjahr 2025 ihren ersten neuen Song seit über zwei Jahrzehnten veröffentlichten, war die Euphorie bei Fans und Kritikern groß. Spike Island, die erste Single aus dem Comeback-Album More, knüpfte klanglich souverän an das Schaffen der Band in den 90ern an und wurde von der britischen Presse gefeiert. Doch das Musikvideo zur Single sorgte für eine ganz andere Art von Gespräch – und entfachte eine Debatte, die weit über den Song hinausreicht.
Denn das visuelle Begleitmaterial zu Spike Island wurde mithilfe generativer künstlicher Intelligenz erstellt. Ein Umstand, der bei vielen Fans für Verwunderung, bei manchen sogar für Enttäuschung sorgte. Besonders irritierend: Während Jarvis Cocker im Song von der Berufung singt, Künstler zu sein, scheint das dazugehörige Video gerade jene kreative Arbeit zu ersetzen, die andere ausüben könnten.
“H.I. Forever!” – Jarvis Cocker und sein ambivalentes Experiment
Jarvis Cocker selbst erklärte in Interviews und in der Pressemitteilung zur Veröffentlichung, die Idee sei aus einer spontanen Überlegung heraus entstanden. Er habe sich gefragt, was passieren würde, wenn man die ikonischen Fotografien des Different Class-Artworks aus den 90ern durch eine KI laufen ließe. Die Ergebnisse empfand er zwar als „unterwältigend“, entschied sich aber dennoch, das Projekt weiterzuführen – aus Neugier und um zu sehen, wohin ihn der Prozess führen würde.
In dem von ihm mitgestalteten Video tauchen animierte Bilder auf, die eindeutig das Produkt generativer Bild-KI sind. Cocker beschreibt die Erfahrung als verstörend, beinahe halluzinatorisch. In einem Statement betont er dennoch seine Präferenz für menschliche Kreativität und beendet das Video mit dem Schriftzug: “Human Intelligence at its best. H.I. Forever!”
Diese ironisch gemeinte Pointe kam bei vielen Beobachtern allerdings nicht gut an. In den sozialen Medien wurde Cocker dafür kritisiert, das Thema zwar kommentieren zu wollen, es jedoch selbst zu bedienen.
Ein Fan schrieb: „Künstliche Intelligenz wird Künstler:innen niemals ersetzen können, und wir sollten uns nicht mit einer Zukunft abfinden müssen, in der sie fest in der Kunst verankert ist.“ Andere sprachen von einer „kapitulierenden Botschaft“ und verwiesen auf das Missverhältnis zwischen dem emotionalen Gehalt des Songs und der Art seiner Visualisierung.
Die KI-Debatte in der Musikwelt wird dringlicher
Cocker steht mit seinem Dilemma nicht allein da. Die Musikbranche diskutiert aktuell intensiv über den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, sei es beim Schreiben von Songtexten, beim Komponieren, beim Produzieren oder eben beim Erstellen visueller Inhalte. Während einige die neuen Möglichkeiten als kreative Werkzeuge begreifen, fürchten andere eine schleichende Entwertung künstlerischer Prozesse. Die zentrale Frage lautet: Wo endet die künstlerische Kontrolle und wo beginnt der Automatismus?
Zahlreiche Tools zur Generierung von Songtexten oder Melodien sind bereits im Umlauf. Programme wie Suno, Udio oder das viel zitierte ChatGPT ermöglichen es Nutzer:innen, auf Knopfdruck Songs im Stil von bekannten Künstlern zu generieren mitsamt Text, Harmonieverläufen und Instrumentierung. Was vor wenigen Jahren noch als futuristische Spielerei galt, wird inzwischen ernsthaft als Produktionsmittel genutzt. Einige sehen darin einen emanzipatorischen Akt, andere sprechen von kultureller Entleerung und Geldmacherei mit der kreativen Arbeit von Menschen. Spotify hat damit begonnen, KI-generierte Musik in die Playlisten seiner Nutzer zu mischen, um keine Tantiemen zahlen zu müssen. Ein direkter Angriff auf die Musikbranche selbst.
Vor allem die Ununterscheidbarkeit ist es, die vielen Sorgen bereitet: Wenn ein Song genau so klingen kann wie von einem bestimmten Künstler, aber von keiner lebenden Person stammt, was bleibt dann noch vom Künstlerischen übrig? Ist Originalität noch ein Wert oder genügt die vermeintlich perfekte Simulation?
Nick Cave: “This song is bullshit.”
Einer, der zu diesen Fragen bereits vor Jahren unmissverständlich Stellung bezogen hat, ist Nick Cave. Bereits im Sommer 2023 veröffentlichte er auf seinem Blog The Red Hand Files eine ausführliche Antwort auf einen Fan, der ihm einen von ChatGPT generierten Songtext „im Stil von Nick Cave“ geschickt hatte. Caves Reaktion fiel drastisch aus:
„Dieser Song ist scheiße. Er ist eine groteske Verzerrung dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.“ (Nick Cave)
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Doch hinter der drastischen Wortwahl steckt eine tiefgründige Argumentation. Cave kritisiert nicht nur das Ergebnis, sondern das Prinzip dahinter: Die Vorstellung, dass ein Algorithmus echte Kunst erzeugen könne, hält er für grundlegend falsch – ja, sogar gefährlich. Künstliche Intelligenz, so Cave, könne niemals einen ehrlichen Song erschaffen. Sie sei zur Imitation verdammt, zur ewigen Oberfläche ohne Substanz. Kunst aber entstehe aus Tiefe – aus Schmerz, Erfahrung, Widersprüchlichkeit.
Echte Kunst, so Cave, bestehe darin, sich selbst zu überwinden, das Bekannte zu zerstören, um Platz für etwas Neues zu schaffen. Der Zuhörer spüre diesen Kampf, er erkenne darin seine eigene Verletzlichkeit wieder. Das sei der Ort, an dem sich Kunst und Mensch berühren – nicht in der perfekten Nachahmung, sondern im Imperfekten, im Mutigen, im Unerklärlichen.
„Das Staunen und die Ehrfurcht, die wir empfinden, liegen in der verzweifelten Kühnheit des Strebens – nicht allein im Ergebnis.“ (Nick Cave)
Schon 2019 hatte Cave eine ähnliche Haltung formuliert. Damals antwortete er auf die Frage, ob KI je in der Lage sein werde, gute Songs zu schreiben, mit einem Verweis auf die Kühnheit, sich über die eigenen Möglichkeiten hinwegzusetzen. Es gehe bei großartigen Songs nicht nur darum, dass sie Gefühle erzeugen, sondern um den Weg dorthin. Wenn aber eine Maschine keine Biografie, keine Ängste, keine Geschichte habe, was sei dann der Wert ihres Outputs?
Auch Brian Eno hat sich in der Vergangenheit mehrfach kritisch über den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Kunst und speziell in der Musik geäußert. Seine Aussagen sind weniger technikfeindlich als vielmehr kulturphilosophisch geprägt. Er betrachtet KI vor allem als eine Technologie der Reproduktion, nicht der Innovation und betont die Bedeutung von Intuition, Irrtum und menschlicher Erfahrung in kreativen Prozessen.
„Wenn es keine Überraschung gibt, gibt es keine Kunst. Das ist meine Definition. Und das Problem mit KI ist, dass sie auf dem basiert, was bereits existiert. Sie versucht nicht, uns zu überraschen, sie versucht, unsere Erwartungen zu erfüllen.“ (Brian Eno)
Ein kultureller Wendepunkt?
Die Reaktionen auf das Pulp-Video und die Äußerungen von Nick Cave markieren einen Moment der Selbstvergewisserung für die Musikbranche. In einer Zeit, in der vieles automatisierbar scheint, rückt die Frage nach dem Ursprung kreativer Leistung in den Mittelpunkt. Welche Rolle spielt das menschliche Element, wenn Maschinen schnell, einfach und günstig Inhalte liefern? Und was bedeutet es für junge Kreative, wenn Produktionsprozesse zunehmend automatisiert werden?
Wer das Video zu Spike Island sieht, sieht nicht nur ein stilistisches Experiment, sondern auch einen möglichen Ausblick auf eine Branche, in der Maschinen kreative Jobs übernehmen. Die Kritik an Pulp ist deshalb nicht technikfeindlich, sondern eine Absage an Gleichgültigkeit.
KI als kreatives Werkzeug oder als Ersatz?
Was Pulp mit dem Video zu Spike Island ausgelöst haben, ist mehr als eine ästhetische Debatte. Es geht um den Umgang mit einer Technologie, die nicht nur unterstützt, sondern zunehmend ersetzt – und dabei den Wert künstlerischer Arbeit untergräbt. KI schreibt Songs, generiert Stimmen, gestaltet Bilder. Was früher Ausdruck war, wird heute zur Simulation.
Das Problem ist nicht die Technik an sich, sondern ihre Anwendung als Ersatz für menschliche Kreativität. Wenn Algorithmen Inhalte in Sekunden erzeugen, wird Kreativität zur austauschbaren Ware. Was verloren geht, ist das, was Nick Cave als essenziell beschreibt: Erfahrung, Scheitern, Risiko, also: Menschlichkeit. KI produziert keinen Fortschritt, sondern variiert das Bestehende. Das Ziel der KI-Konzernen wie OpenAI, Google und Co. ist es, Menschen von KI abhängig zu machen, um ihr Geschäftsmodell aufzubauen. Und das wird zunehmend ein Problem.
Wer heute kreativ arbeitet, konkurriert mit Systemen, die schneller, billiger und einfach nur „gut genug“ sind für die jeweilige Aufgabe. Das bedroht nicht nur Jobs, sondern auch die Idee von Kunst als etwas Bedeutungsvollem. Die eigentliche Frage lautet deshalb nicht, ob KI genutzt wird, sondern: Wofür? Von wem? Und was sind wir bereit dafür aufzugeben?