Arcade Fire melden sich zurück mit einem Album, das sich nicht um Vergebung bemüht, sondern um Verortung.
Pink Elephant ist der Versuch einer Band, nach einem öffentlichen und privaten Kontrollverlust wieder Boden unter die Füße zu bekommen.
Drei Jahre nach den Vorwürfen gegen Sänger Win Butler, sich mehreren Frauen gegenüber beim Sexting übergriffig verhalten zu haben, ist das Vertrauen beschädigt, auch innerhalb der eigenen Community. Der Rückzug war still, das Comeback kommt leise, suchend, und ohne klare Richtung.
Der Albumtitel spielt auf das klassische Bild des „rosa Elefanten“ an – ein Symbol für alkoholinduzierte Halluzinationen oder psychischen Ausnahmezustand. Auf dem Cover: eine kleine rote Wachselefantenfigur, der das Hirn wegschmilzt. Es ist ein drastisches, fast ironisches Bild, das gut zum Ton des Albums passt.
Arcade Fire verhandeln hier keine Erlösung, sondern einen Zustand zwischen Rausch, Erschöpfung und Selbstbeobachtung. Die Musik dazu klingt reduziert, trocken, manchmal fast entkernt. Wo früher bombastische Arrangements standen, bleibt oft nur ein rhythmisches Gerüst, eine eiernde Gitarre oder ein mantraartiger Refrain. Die Songs wirken wie aus der Ferne gedacht: zurückgenommen, aber nicht unbedingt klarer.
„Open Your Heart or Die Trying“, das eröffnende Instrumental, funktioniert als atmosphärischer Auftakt. Ein schwebendes Stück, das zwischen Ambient und Post-Rock changiert, ohne sich festzulegen. Darauf folgt der Titeltrack „Pink Elephant“, ein schleppender Indierock-Song mit verzerrter Gitarre und brüchigem Gesang, der mehr Zustand als Erzählung ist. „Year of the Snake“ geht diesen Weg weiter: brüchige Lyrics, die zwischen innerer Zerrissenheit und spirituellem Pathos changieren.
Der Text wirkt wie ein Spiegelbild der Widersprüche, die dieses Album durchziehen: „I tried to be good / But I’m a real boy / And my heart’s full of love / It’s not made out of wood.“ Es ist der Versuch, sich Schwäche zuzugestehen oder sie zumindest zur Sprache zu bringen.
Zwischendurch gibt es kurze Momente von Struktur. „Ride or Die“ erinnert in seiner schlichten Melancholie an Neil Young, während „I Love Her Shadow“ mit seinem hymnischen Aufbau zumindest andeutet, was Arcade Fire einmal ausgemacht hat. Doch diese Ausreißer bleiben selten. Leider.
„She Cries Diamond Rain“, ein weiteres Instrumental, kippt zurück in ätherische Klangflächen, bevor das abschließende „Stuck in My Head“ das Album mit einer wall-of-sound-artigen Steigerung beschließt, die an frühere Größe erinnert, ohne wirklich dort anzukommen.
Pink Elephant klingt wie ein Requiem auf die eigene Vergangenheit. Es ist ein Album voller Brüche, leiser Gesten und unaufgelöster Fragen. Die unbändige Energie früherer Werke ist einer müden Selbstreflexion gewichen, in der vieles unausgesprochen bleibt. Arcade Fire verweigern sich hier einer klaren Erzählung. Es bleibt ein Fragment, ein Werk im Schwebezustand, das weniger Antworten gibt als es selbst sucht.
Arcade Fire – Pink Elephant
- Arcade Fire – Pink Elephant
- Stuck In My Head
- Open Your Heart or Die Trying
- Pink Elephant
- Year of the Snake
- Circle of Trust
- Alien Nation
- Beyond Salvation
- Ride or Die
- I Love Her Shadow
- She Cries Diamond Rain
Biografie Arcade Fire
Arcade Fire gründen sich Anfang der 2000er-Jahre in Montreal, einer Stadt, die zu dieser Zeit als kreatives Zentrum für experimentelle Musik und Kunstszene gilt. Im Mittelpunkt stehen der aus Texas stammende Musiker Win Butler und die franko-haitianische Multiinstrumentalistin Régine Chassagne, die sich 2001 an der McGill University begegnen. Schnell entwickelt sich aus ihrer persönlichen und künstlerischen Verbindung ein gemeinsames Projekt, das bald Mitstreiter wie Richard Reed Parry, Tim Kingsbury und Jeremy Gara anzieht.
Die Band formiert sich als Kollektiv, das klassische Rockinstrumente mit Violine, Akkordeon, Orgel und Glockenspiel kombiniert und dabei Einflüsse aus Indie-Rock, Barockpop und Kirchenmusik zu einem eigenen, vielschichtigen Klangbild verdichtet. Früh zeichnen sich eine theatralische Bühnensprache, ein hohes emotionales Energielevel und ein Hang zum Konzeptuellen ab – Arcade Fire sind von Beginn an mehr als eine gewöhnliche Indie-Band.
Funeral (2004)
Ihr Debüt Funeral erscheint 2004 und wird sofort als Meilenstein gefeiert. Das Album verarbeitet mehrere Todesfälle im Umfeld der Band und klingt entsprechend eindringlich, aber nie resigniert. Mit hymnischen Songs wie „Wake Up“, „Rebellion (Lies)“ oder „Neighborhood #1 (Tunnels)“ gelingt Arcade Fire der Spagat zwischen Pathos und Punkethos. Die Kritiken überschlagen sich, Funeral gilt als eines der einflussreichsten Indie-Alben der 2000er-Jahre und legt den Grundstein für den internationalen Durchbruch.
Neon Bible (2007)
Statt sich im Erfolg zu sonnen, gehen Arcade Fire mit Neon Bible einen dunkleren, ernsteren Weg. Aufgenommen in einer umgebauten Kirche, reflektiert das Album über religiöse Symbolik, amerikanische Kulturkritik und existentielle Ängste. Die Single „Intervention“ verbindet Kirchenorgel mit Rockpathos, „No Cars Go“ wird zum Live-Favoriten. Die Songs sind dichter arrangiert, die Theatralik nimmt zu, ohne ins Kitschige abzurutschen. Arcade Fire präsentieren sich hier als moralisch aufgeladene Band mit Ambitionen über den Tellerrand des Indie-Rock hinaus.
The Suburbs (2010)
Mit The Suburbs gelingt Arcade Fire ihr bislang größter Wurf. Das Album setzt sich mit dem Leben in nordamerikanischen Vorstädten auseinander – weder romantisierend noch vernichtend. Stilistisch vielfältig, zwischen Indie-Rock, Synthpop und Americana angesiedelt, entstehen Songs wie „Ready to Start“, „We Used to Wait“ oder „Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)“, die persönliche Erinnerungen mit gesellschaftlichem Kommentar verbinden. The Suburbs wird mit dem Grammy für das „Album des Jahres“ ausgezeichnet, was Arcade Fire endgültig in den Mainstream katapultiert – eine Indie-Band, die das große Format nicht scheut und dennoch authentisch bleibt.
Reflektor (2013)
Die Erwartungen nach dem Grammy-Erfolg sind hoch. Arcade Fire reagieren mit einem Doppelalbum, das sich stark von haitianischer Musik, Disco und Artrock inspirieren lässt. Reflektor entsteht unter der Mitwirkung von James Murphy (LCD Soundsystem) und erweitert den Sound der Band um elektronische und karibische Elemente. Das titelgebende Stück, ein Sieben-Minuten-Track mit David Bowie im Background, wird zum Symbol dieser Phase: raumgreifend, tanzbar, ambitioniert. Das Album polarisiert, manche feiern den musikalischen Befreiungsschlag, andere vermissen die emotionale Energie früherer Werke.
Everything Now (2017)
Der experimentelle Kurs setzt sich fort. Everything Now ist ein Konzeptalbum über Konsum, Zynismus und digitale Überforderung. Verpackt wird das Ganze in ironische Werbeästhetik und pastellfarbenes Discodesign. Die Songs wirken bewusst überladen, die Produktion grell und referenziell. Der Titelsong erinnert an ABBA und Daft Punk zugleich, andere Stücke spielen mit Synthpop, Italo Disco und Stadionrock. Viele Kritiker werfen der Band in dieser Phase Selbstverliebtheit vor, andere loben den Mut zur Überzeichnung. Arcade Fire stellen ihr eigenes Image infrage.
WE (2022)
Nach Jahren der stilistischen Zerfaserung besinnt sich die Band mit WE wieder auf kompaktere Strukturen. Produziert von Nigel Godrich (Radiohead) bringt das Album eine neue Klarheit und Ernsthaftigkeit in den Sound zurück. Es ist in zwei Hälften gegliedert: eine erste, dystopisch geprägte („I“), und eine zweite, die Hoffnung und Gemeinschaft betont („WE“). WE erscheint mitten in der Pandemie und wirkt wie ein stiller Versuch, Halt zu finden. Das Album wird wohlwollend aufgenommen, ohne den Hype früherer Jahre zu erreichen. Trotzdem füllt die Band weltweit die ganz großen Hallen.
Pink Elephant (2025)
Drei Jahre nach der Veröffentlichung von WE erscheint Pink Elephant. Das siebte Studioalbum klingt zurückgenommen, reduziert, fast spröde. Arcade Fire arbeiten sich hörbar an der eigenen Geschichte ab, an Brüchen, Schuld und dem Versuch eines Weiterlebens. Die Band verzichtet auf große Gesten, setzt stattdessen auf fragile Songskizzen, instrumentale Zwischenspiele und nachdenkliche Texte. Die Stimmung ist introspektiv, manchmal verzweifelt, aber nie zynisch. Pink Elephant ist kein Neuanfang, sondern ein Dokument des Ringens – mit der eigenen Rolle, der Öffentlichkeit und einem künstlerischen Selbstverständnis, das nicht mehr unangetastet ist.
Tonspion Backstage Pass
In eigener Sache: Wir möchten unsere Social Media Profile löschen und unabhängig von nerviger Bannerwerbung werden. Und dazu brauchen wir dich: Unterstütze unsere Arbeit und hol dir den Tonspion Backstage Pass ab 2 Euro/Monat.
Sobald wir genügend Mitglieder haben, können wir wieder unabhängig von den großen Plattformen arbeiten.