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Pulp – „More“: Hymnen für das Hier und Jetzt

Es ist das erste neue Album der Britpop-Ikonen Pulp seit 24 Jahren – und gleichzeitig eine erstaunlich vitale Bestandsaufnahme dessen, was es heißt, älter zu werden, ohne sich der Nostalgie hinzugeben.
★★★★★

„More“ ist eine Sammlung von Songs, die Jarvis Cockers scharfsinnige Beobachtungen und den untrüglichen Sinn für Melodien in ein neues Licht rücken.

Pulp waren schon immer eine Band, die sich nie ganz dem Konsens unterwarf. In den 1990er-Jahren wurden sie zu einer Stimme für Außenseiter und gegen den Mainstream-Patriotismus vieler Britpop-Kollegen. Mit „Common People“ oder „Mis-Shapes“ standen sie für das Gefühl, nicht dazuzugehören. Doch nach dem düsteren „This Is Hardcore“ (1998) und dem versöhnlicheren „We Love Life“ (2001) lösten sie sich still auf. Heute, mehr als zwei Jahrzehnte später, kehrt die Band zurück, gereifter, aber immer noch eigenwillig.

„More“ ist keine Rückkehr zu den alten Formeln. Jarvis Cocker und seine Mitstreiter Nick Banks, Candida Doyle und Mark Webber liefern kein bloßes Abziehbild ihrer früheren Glanztaten, sondern ein Album, das neue Fragen stellt: Was bleibt, wenn jugendlicher Überschwang dem Nachdenken weicht? Was bleibt von den großen Plänen, wenn man sich im Supermarkt wiederfindet, statt im Rausch der Nacht?

Die Songs auf „More“ sind voller typischer Pulp-Momente: spöttisch, ironisch und gleichzeitig mitfühlend. „Spike Island“, der eröffnende Track, räumt gleich zu Beginn mit dem eigenen Mythos auf. „The universe shrugged, then moved on“, singt Cocker – eine selbstironische Reflexion über das Vergessenwerden und den eigenen Platz im Universum.

„Background Noise“ führt diesen Gedanken weiter: Hier wird der Existenzialismus nicht auf einer Bühne, sondern inmitten eines Einkaufszentrums verhandelt. Ein Mann, der einst mit Kuckold-Fantasien gegen soziale Ungleichheit protestierte, fragt nun, wie man nach einer Scheidung überhaupt wieder an Liebe glauben kann. Es ist diese Übersetzung von Introspektion ins Alltägliche, die Pulp schon immer auszeichnete.

Doch „More“ ist weit davon entfernt, ein müder Nachklapp zu sein. Songs wie „Got To Have Love“ sind durchzogen von einer pulsierenden Energie, die an die frühen Club-Hymnen der Band erinnert. „When love disappears, life disappears“, warnt Cocker hier mit Nachdruck. Diese Dringlichkeit ist spürbar: Der Tod von Bassist Steve Mackey 2023, so erzählte Cocker im Interview, habe die Band nicht in den Rückzug gezwungen, sondern als Weckruf gewirkt. „Wenn jemand Wichtiges stirbt, musst du über dein eigenes Leben nachdenken“, sagt er. „Wenn du noch lebst, kannst du immer noch Neues erschaffen.“

Produziert von James Ford, klingt „More“ vertraut, aber nie altbacken. Die Songs sind geschmeidig arrangiert, mit Elementen von Chanson, Disco und 70er-Jahre-Pop, ohne sich in Retromanie zu verlieren. Das hymnische „A Hymn Of The North“ ist vielleicht das ergreifendste Beispiel: eine melancholische Ballade in bester Scott-Walker-Tradition, getragen von Cocker’s charakteristischer Stimme.

Lyrisch bleibt Cocker ein Meister der Balance zwischen Spott und Empathie. „Grown Ups“ ist ein Höhepunkt des Albums, ein schonungsloser Blick auf die Kompromisse des Erwachsenseins: „Life’s too short to drink bad wine“, ein Satz, der zugleich Lebensweisheit und Resignation in sich trägt.

„Tina“ wiederum greift die Melancholie verpasster Gelegenheiten auf, ein Thema, das sich durch Pulps Werk zieht. Doch diesmal geht es nicht mehr um jugendliche Fehltritte, sondern um verpasste Chancen, die 40 Jahre zurückliegen. „My Sex“ schließlich verhandelt die nachlassende Libido ohne falsche Scham: „Hurry ’cos with sex, we’re running out of time.“

Musikalisch klingen Pulp auf „More“ wie sie selbst, was angesichts von Cockers unverwechselbarem Sprechgesang und der Vorliebe für dramatische Steigerungen fast selbstverständlich scheint. Doch es gibt auch subtile Neuerungen: die Arrangements sind dichter, der Sound etwas zeitgenössischer, ohne sich anzubiedern. Streicher erinnern an die Ära mit Russell Senior, die Elektronik ist sparsam, aber effektvoll eingesetzt.

Die Songs wechseln zwischen Disco-Grooves („Got To Have Love“) und introspektiven Balladen („A Sunset“), dazwischen immer wieder diese Momente, in denen Cocker mit einem einzigen Satz ganze Welten öffnet wie das Versprechen, das „More“ über allem schwebt: nicht nur ein nostalgischer Rückblick, sondern ein Album, das die eigene Geschichte weiterschreibt.

„More“ wird niemanden bekehren, der Pulp nie mochte. Aber es ist auch kein Album für die Bierpausen zwischen den alten Hits. Stattdessen ist es ein Werk, das das Vermächtnis der Band nicht nur bewahrt, sondern erweitert.

Dass Pulp damit ein Album gelungen ist, das nicht nur ihre Fans beschenkt, sondern sich selbst als relevante Band jenseits des Britpop-Ruhms neu erfindet, macht „More“ zu einem späten Triumph und zu einem Beleg dafür, dass auch im mittleren Alter noch Hymnen geschrieben werden können. „More“ ist mehr, als man sich zu erhoffen wagte.

Biografie Pulp

Pulp ist eine britische Band, die sich in den 1990er-Jahren als Stimme für Außenseiter und Verweigerer des Mainstream-Rock-Patriotismus einen Namen machte. Gegründet wurde sie 1978 in Sheffield von Jarvis Cocker, der bis heute das Gesicht und die Stimme der Gruppe ist. Doch der Weg zur Ikone des Britpop war für Pulp alles andere als geradlinig.

Frühe Jahre: Vom Underground zum Durchbruch

In ihren Anfangsjahren spielte die Band einen experimentellen, teils melancholischen Sound, der sich kaum mit dem späteren Britpop-Label in Einklang bringen lässt. Alben wie „It“ (1983) oder „Freaks“ (1987) fanden kaum Beachtung. Es dauerte über ein Jahrzehnt, bis Pulp Mitte der 1990er-Jahre mit „His ’n’ Hers“ (1994) und vor allem „Different Class“ (1995) zu gefeierten Stars wurden. „Different Class“ enthält mit „Common People“ und „Disco 2000“ zwei Songs, die zum Soundtrack einer Generation wurden.

Pulp schufen mit ihren scharfen, oft ironischen Texten und Cockers charismatischem Sprechgesang ein Gegenmodell zur selbstverliebten Attitüde vieler Britpop-Bands. Statt Heldenposen gab es bei ihnen den Blick in schäbige Schlafzimmer, den Spott über Konsumkultur und immer wieder auch Sympathie für jene, die nicht dazugehören.

Späte 1990er: Der Blick hinter die Kulissen

Mit „This Is Hardcore“ (1998) lieferte die Band ein düsteres Album, das den Kater nach der Euphorie der Britpop-Jahre thematisierte. Sex, Ruhm und Vergänglichkeit – Cockers Texte sprachen plötzlich von Resignation und Desillusionierung. „We Love Life“ (2001), produziert von Scott Walker, war anschließend ein versöhnlicherer Abschluss, bevor die Band sich 2002 ohne großes Aufheben auflöste.

Zwischenzeit und Rückkehr

Jarvis Cocker veröffentlichte in den 2000er-Jahren mehrere Soloalben und erwarb sich einen Ruf als nationaler Kulturschatz Großbritanniens. Pulp selbst kehrten 2011 für eine umjubelte Reunion-Tour zurück, die noch einmal zeigte, wie zeitlos ihre Musik war. In den folgenden Jahren beeinflussten sie immer wieder neue Künstlergenerationen, von Arctic Monkeys bis zu aktuellen Bands wie Sports Team.

2023 starb Bassist Steve Mackey – ein einschneidender Moment, der die Band zugleich daran erinnerte, dass ihre Arbeit noch nicht beendet war. Ein Jahr später, im Juni 2025, veröffentlichten Pulp mit „More“ ihr erstes neues Album seit über zwei Jahrzehnten: ein Alterswerk, das nicht auf die Vergangenheit schielt, sondern sich mit Fragen von Liebe, Verlust und Würde im Hier und Jetzt auseinandersetzt.

Klang und Einfluss

Pulps Musik ist ein eigenwilliger Mix aus Glamour und Alltagsdreck: Disco-Rhythmen treffen auf düsteren Chanson, wuchtige Streicher auf lakonische Texte. Dieser Kontrast ist ihr Markenzeichen – und Cocker, der ewige Dandy mit der Hornbrille, ihr charismatischer Mittelpunkt. Auch wenn Pulp nie so viele Platten wie Oasis oder Blur verkauft haben, genießen sie bis heute Kultstatus. Denn sie haben etwas geschaffen, das über Charts und Verkaufszahlen hinausgeht: ein künstlerisches Universum, in dem das Außenseitertum gefeiert wird – und das bis heute nachhallt.


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