Kulturelle Aneignung vs. Cancel Culture: Ein Buch über zwei verbissen verwendete Kampfbegriffe bietet einen Ausweg aus dem Dilemma, indem es eine „Ethik der Appropriation“ vorschlägt.
Jens Balzer, geboren 1969, lebt in Berlin und ist Autor und Kolumnist, u.a. für die «Zeit», «Rolling Stone», den Deutschlandfunk und radioeins. Sein Buch „Ethik der Appropriation“, erschienen in der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ behandelt ein derzeit allerdings ziemlich verbissen behandeltes Thema, nämlich das der kulturellen Aneignung. Die Aufregung um das (Phantom-)Verbot von Winnetou, weiße Musiker mit Dreadlocks und alle Karnevale wieder diverse Verkleidungen – laut Balzer beruht schlicht jede Kultur auf Aneignung. Doch von vorne: wie lautet eigentlich die Definition von kultureller Aneignung? Balzer nennt in seinem Buch die der US-Rechtswissenschaftlerin Susan Scafidi, die in ihrem Buch „Who Owns Culture? Appropriation and Authenticity in American Law“ schreibt:
„Cultural Appropriation, das ist: wenn man sich bei dem intellektuellen Eigentum, dem traditionellen Wissen, den kulturellen Ausdrücken oder Artefakten von jemand anderem bedient, um damit den eigenen Geschmack zu bedienen, die eigene Individualität auszudrücken oder schlichtweg: um daraus Profit zu schlagen“.
Ob eine kulturelle Frage unbedingt juristisch zu klären ist, ist ein Problem dieser Definition, ein anderes ist, so Balzer, dass es sich oft nicht eindeutig klären lässt, wer oder was „voll und ganz zu einer Kultur gehört“.
Aber mit Nuancen befasst sich die Debatte nicht, stattdessen steht sie im Spannungsfeld zu dem zweiten Kampfbegriff „Cancel Culture“, der von Rechten geprägt wurde und von Populisten in die Formel „Man darf nichts mehr sagen“ gepresst wurde. Das Interesse von diesem politischen Spektrum ist groß, die Diskussion als Denkverbote von irren Linken abzubilden. Für Kulturjournalist Balzer ist es deshalb wichtig, zu zeigen, dass eine Debatte über das Thema wichtig ist – ohne Hysterie und mit Hintergrundwissen. Am Beispiel der Musik zeigt Balzer, dass wir in unserer hyperglobalisierten Zeit überall mit diesem Thema konfrontiert sind und es schon lange sind. Als Madonna beispielsweise 1990 ihren Song „Vogue“ herausbrachte, hagelte es Kritik von der queeren Ballroom- und Drag-Szene, da sie eine Subkultur für den Mainstream ausbeutete. Balzereit stellt dem entgegen, dass selbst die Drag-Szene mit kulturellen Konstruktionen arbeitet, also auch nicht „ursprünglich“ ist, sondern in gewisser Weise auch angeeignet.
In diesem Sinn gilt es zu differenzieren, handelt es sich um Ausbeutung (siehe das unsägliche Blackfacing) oder um Anerkennung (siehe den Umgang bei Hip-Hop mit Sampling). Ob man jedoch immer fein säuberlich trennen kann nach „guter“ und „schlechter“ Aneignung, ist genauso komplex wie das Thema selbst. Denn um bei Madonna zu bleiben: Für einige ist „Vogue“ kalkulierte und kalte Ausbeutung, für andere schlicht geniale Pop-Hommage.
„Ethik der Appropriation“ von Jens Balzer ist bei Matthes & Seitz Berlin erschienen (100 Seiten, 10 Euro).
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