30 Jahre ist es her, seit Oasis gegen Blur um die Vorherrschaft im Britpop kämpften, die Ära der Boybands vorläufig zu Ende ging, während die Loveparade zum Massen-Event wurde.
Mit dem Abstand der Jahre lässt sich erkennen, wie stark sich die Koordinaten nach der Wende verschoben. Während man in Bonn immer noch an der deutschen Einheit arbeitete wurden bereits erste Risse in der Gesellschaft erkennbar und viele Menschen in Ostdeutschland fühlten sich von der Regierung Kohl im Stich gelassen, der Ausverkauf der ehemaligen DDR an westliche Unternehmen hatte seine Spuren im Osten hinterlassen.
In mehreren Städten kam es zu rassistisch motivierten Angriffen, insbesondere auf Geflüchtete und Migranten. Das Thema Asylrecht blieb umstritten, die Verschärfungen der Vorjahre wirkten weiter nach.
Inmitten Europas fand ein Völkermord in Bosnien statt und das vereinte Deutschland schaute regungslos zu. Erstmals wurde deutlich, dass Deutschland künftig als größtes Land in Europa eine neue Verantwortung trägt, um den Kontinent zusammenzuführen.
Die Musikszene war so vielfältig wie nie zuvor. Zwar war Grunge mit Kurt Cobain im Vorjahr gestorben und billiger Euro-Dance dominierte die Charts, doch der Siegeszug der CD brachte so viel Geld ein, dass immer mehr Künstler immer schneller gesignt wurden. Das führte dazu, dass immer mehr eher mittelgute Musik auf den Markt gedrückt wurde. Aber es gab auch einige bemerkenswerte Entwicklungen.
Oasis veröffentlichen „(What’s the Story) Morning Glory?“: Britpop auf dem Gipfel
Am 2. Oktober 1995 erschien das zweite Album von Oasis. „(What’s the Story) Morning Glory?“ wurde mit Songs wie „Wonderwall“, „Don’t Look Back in Anger“ und „Champagne Supernova“ zum erfolgreichsten britischen Gitarrenalbum des Jahrzehnts. Die Band aus Manchester traf den Nerv einer Generation, die zwischen Resignation und Selbstermächtigung nach neuen Stimmen suchte. Innerhalb weniger Wochen verkaufte sich das Album millionenfach, zuerst in Großbritannien, dann weltweit. Auch in Deutschland wurden vor allem viele junge Männer zu Oasis-Ultras.
Zuvor hatte die britische Presse den „Battle of Britpop“ inszeniert: Oasis gegen Blur. Zwei Singles, „Roll With It“ und „Country House“, erschienen zeitgleich im August. Charttechnisch gewann Blur, langfristig setzte sich Oasis durch, zumindest kommerziell. Mit „Morning Glory“ wurde Britpop endgültig ein internationales Phänomen. Wie wichtig diese Zeit für viele war, zeigt sich in den ausverkauften Comeback-Konzerten 30 Jahre später.
Take That und der Abschied von Robbie Williams
Im Frühjahr 1995 veröffentlichten Take That ihre erfolgreichste Single: „Back for Good“. Der Song erreichte Platz 1 in den britischen und deutschen Charts und wurde auch in den USA zum Hit, eine Seltenheit für eine britische Boygroup. Der melancholische Popsong stand im Kontrast zum üblichen, durchgetakteten Image der Band. Mit „Back for Good“ schienen Take That den Sprung aus dem Teenie-Pop ins popkulturelle Langzeitgedächtnis zu schaffen.
Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, im Juli 1995, verließ Robbie Williams die Band. Der Ausstieg wurde zum popkulturellen Schockmoment des Jahres. In Großbritannien und vor allem auch in Deutschland reagierten viele Fans mit Unverständnis, Wut und echter Verzweiflung. Die Medien berichteten über weinende Teenager vor Plattenläden, Fanbriefe, Trauerbekundungen. Williams’ Rückzug war nicht nur der Verlust eines Bandmitglieds, sondern auch das Ende des Phänomens Boyband. Das Erwachsenwerden der Bandmitglieder und der Fans wurde offenbar von den Musikmanagern nicht mitbedacht. Und so begannen die populärsten Boyband-Sänger Solokarrieren, von der die von Robbie Williams und Justin Timberlake die nachhaltigsten werden sollten. Die meisten Boybands verschwanden jedoch einfach in der Versenkung.
Michael Jackson veröffentlicht „HIStory“ und lenkt von Vorwürfen ab
Am 20. Juni 1995 erschien Michael Jacksons Doppelalbum „HIStory: Past, Present and Future, Book I“. Die erste CD enthielt eine Auswahl seiner größten Hits, die zweite neue Songs wie „Scream“, „They Don’t Care About Us“ und „You Are Not Alone“. Das Album wurde von einer massiven PR-Kampagne begleitet, inklusive spektakulärer Musikvideos und einer globalen Tourankündigung. Doch das einst makellose Image von Michael Jackson bröckelte, nachdem er Vorwürfe des Kindesmissbrauchs mit einer Vergleichszahlung von 23 Millionen Dollar an den Kläger konterte und damit einen öffentlichen Prozess verhinderte.
In Interviews inszeniert er sich als ewig kindlicher Peter Pan, der Kinder liebt und einfach nur gerne mit ihnen Zeit verbringt. Die Musikszene schaut gerne weg und feiert ihn weiter als überlebensgroßen Popstar, der über allen Gesetzen steht. Man will es einfach nicht wahrhaben, dass der populärste Musiker der Welt ein Kinderschänder sein könnte, obwohl immer neue Vorwürfe ans Tageslicht kommen. Viele Fans stellen sich schützend vor ihr Idol.
Reichstagsverhüllung und Love Parade: Berliner Sommer zwischen Kunst und Ekstase
Vom 24. Juni bis 7. Juli 1995 wurde der Berliner Reichstag vollständig verhüllt. Die Künstler Christo und Jeanne-Claude hatten über zwei Jahrzehnte auf die Realisierung hingearbeitet. Nun stand das monumentale Gebäude, eingehüllt in silbern glänzendes Gewebe, als temporäre Skulptur im Zentrum der Hauptstadt. Die Verhüllung zog mehr als fünf Millionen Besucherinnen und Besucher an. Internationale Medien berichteten täglich. Die Aktion wurde nicht nur als spektakuläres Kunstwerk wahrgenommen, sondern auch als politisches Zeichen der Wiedervereinigung.
Nach Jahrzehnten deutscher Teilung und angesichts des anstehenden Umzugs von Parlament und Regierung nach Berlin wurde das Kunstwerk zum Symbol eines neuen nationalen Selbstverständnisses.
Wenige Tage nach Ende der Verhüllung zog erneut eine Menschenmenge durch die Stadt: am 8. Juli 1995 fand die sechste Love Parade statt. Rund 500.000 Menschen tanzten ausgelassen durch den Kurfürstendamm, die Stimmung war friedlich und euphorisch, es dominierte noch der Spaß und nicht der Kommerz. Berlin erlebte einen der heißesten Sommer seiner jüngeren Geschichte, Anwohner schütteten zur Abkühlung Wasser aus Eimern aus ihren Fenstern auf die schwitzenden Raver, die Aufbruchsstimmung in der wiedervereinigten Stadt war überall spürbar. Es gab viel Leerstand und kreativen Freiraum in Berlin, die Mieten waren extrem günstig. Brachflächen und Keller wurden kurzerhand zu illegalen Clubs umfunktioniert, leerstehende Gebäude zu Ateliers, Straßen zu Tanzflächen. Immer mehr junge Menschen zog es nicht zuletzt wegen der vielfältigen Clubszene nach Berlin. Von dieser historisch einmaligen Zeit zehrt die Hauptstadt bis heute.
Das Internet wird öffentlich
Doch 1995 war auch das Jahr, in dem das Internet seine ersten kommerziellen Plattformen hervorbrachte und damit für die breite Öffentlichkeit interessant wurde. Am 16. Juli 1995 ging Amazon online. Zunächst als Online-Buchhandlung gestartet, veränderte die Plattform innerhalb kürzester Zeit den Zugang zu Medienprodukten. Zwar war das Unternehmen anfangs nur in den USA aktiv, doch die Idee des bequemen, personalisierten Einkaufens setzte sich schnell durch. Amazon wurde zur Blaupause für Plattformökonomie und digitale Distribution.
Zeitgleich erschien Windows 95. Das neue Betriebssystem von Microsoft führte das Startmenü ein, bot eine benutzerfreundliche Oberfläche und wurde weltweit in Millionenhaushalten installiert. Der Verkaufsstart wurde wie ein Popereignis inszeniert. In Werbespots lief „Start Me Up“ von den Rolling Stones, vor Elektronikgeschäften bildeten sich Schlangen, Fernsehteams berichteten live.
Windows 95 war nicht einfach ein technisches Produkt, sondern ein kultureller Einschnitt. Der PC mit Internetzugang wurde damit endgültig zum Alltagsgerät, das in keinem Haushalt mehr fehlen durfte.
Die erfolgreichste Musik in Deutschland: Rednex, Vangelis, Kelly Family
In den deutschen Jahrescharts spiegelte sich 1995 eine auffällige stilistische Vielfalt, die Musikszene diversifizierte sich zunehmend. Die erfolgreichste Single des Jahres war „Wish You Were Here“ von Rednex. Die schwedische Danceformation kombinierte Eurobeats mit Banjo und Country-Anleihen und wurde produziert von Max Martin, der anschließend einer der erfolgreichsten Hit-Produzenten der 90er wurde.
Ein weiterer kommerzieller Höhepunkt war „Conquest Of Paradise“ von Vangelis. Ursprünglich als Filmmusik für Ridley Scotts „1492“ komponiert, wurde das Stück 1995 durch seine Nutzung in Boxübertragungen und Fernsehsendungen zum Dauerbrenner.
Die Kelly Family war 1995 unübersehbar. Ihr Album „Over The Hump“ wurde zum kommerziell erfolgreichsten Album des Jahres. Die Ballade „An Angel“ war einer der meistgespielten Songs im deutschen Radio. International sorgten The Cranberries mit „Zombie“ und dem Album „No Need To Argue“ für Aufsehen.
1995 war vielleicht kein besonders prägendes Jahr für die Pop-Musik, aber ein wegweisendes Jahr für die Entwicklung der Clubkultur, eine neue Form friedlicher, sozialer Interaktion, gefördert durch Musik. Der Start des Internet läutete das Ende des analogen Zeitalters ein und die Wiedervereinigung äußerte sich sowohl in Frust als auch in Euphorie über die neue Freiheit in Deutschland. In den Clubs wuchs zwar tatsächlich zusammen, was zusammengehört, in der Provinz wuchs aber gleichzeitig auch die Angst vor immer mehr Veränderungen und Migranten, die im international inzwischen wieder angesehenen Deutschland Zuflucht und Hoffnung suchten, wurden dafür als Sündenböcke auserkoren. Was daraus inzwischen wurde, ist hinreichend bekannt.
Foto: EscoBier