Seit den frühen Tagen des Rock’n’Roll war Popmusik nie nur Klang, sondern auch eine Bühne für Identitäten, Provokationen und gesellschaftliche Transformation. Hier eine Übersicht der Künstler, die maßgeblich für Sichtbarkeit queerer Menschen gesorgt haben.
Dass sich Pop-Stars seit den 1970er Jahren nicht mehr an die binären Regeln von Geschlecht und Sexualität halten, ist längst kein Novum. Vielmehr war es schon immer Teil der Pop-DNA, Geschlechternormen zu hinterfragen, aufzubrechen und neu zu besetzen. Begriffe wie „queer“, „non-binary“ oder „genderfluid“ mögen im Mainstream erst in den letzten Jahren an Sichtbarkeit gewonnen haben, doch ihre ästhetischen und politischen Wurzeln reichen Jahrzehnte zurück.
Ikonen des Aufbruchs
Bereits in den 1950er Jahren legte Little Richard den Grundstein für queeren Pop-Exzess. Mit seiner geschminkten Erscheinung, falsettlastigem Gesang und androgyner Bühnenperson schockierte er das prüde Amerika und inspirierte spätere Generationen. Little Richard, der sich offen als schwul bezeichnete, wurde damit zu einem Pionier queerer Sichtbarkeit in der Musik, lange bevor es Begriffe dafür gab.
Ganz nebenbei erfand er den Rock’n’Roll und bekam dafür als schwarzer queerer Mann kaum Anerkennung. Die Musikindustrie musste sich erst einen weißen, heterosexuellen Interpreten suchen, um ihn als „King of Rock’n’Roll“ zu vermarkten, obwohl dieser Titel einem anderen zugestanden hätte.
In den 1970er Jahren übernahm David Bowie diese Rolle und erweiterte sie. Als Ziggy Stardust ließ er Gender verschwimmen, zeigte sich geschminkt, in Frauenkleidern, sprach offen über seine Bisexualität und Promiskuität. Bowie spielte nicht nur optisch, sondern auch in seiner Musik mit der Idee von Identität, löste sie auf, überhöhte sie und schuf so eine Ästhetik, die androgyn war, glamourös und revolutionär zugleich.
Auch Freddie Mercury, Frontmann von Queen, lebte jenseits tradierter Rollenbilder. Während er sich als Frontmann von Queen als starker Mann mit viel Brustbehaarung inszenierte, zeigte er sich in Interviews oder auch in seinem offen ausgelebten Privatleben selbstbewusst als schwuler Mann, ohne das groß öffentlich zu thematisieren. Im Video zu „I Want To Break Free“ zeigte er sich gemeinsam mit seiner Band in Drag und sprengte damit Grenzen im kommerziellen Musikfernsehen.
In den 1980ern trieben androgyne Künstler*innen wie Annie Lennox die Auflösung von Geschlechterrollen weiter voran. Mit ihrem maskulin-coolen Look, Anzug und Kurzhaarschnitt, wurde sie zur Ikone einer Generation, die sich von festen Rollenbildern lösen wollte. Gleichzeitig brach Prince mit nahezu allem, was das konservative Geschlechterbild verlangte: Seine High Heels, die geschminkten Augen, das bewusst offen getragene Spiel mit Femininität und Männlichkeit machten ihn zu einem der wichtigsten Genderbender der Popgeschichte.
„I’m not a woman, I’m not a man
I am something that you’ll never understand“ (Prince – „I Would Die 4 U“)
Boy George war ebenfalls Teil dieser Bewegung – schrille Outfits, Make-up, lange Haare und eine bewusste Undurchsichtigkeit, was Gender und sexuelle Orientierung betrifft, machten ihn als Club Kid zum Aushängeschild der New Romantic-Szene und zu einem popkulturellen Statement gegen Normativität.
Divine war der erste Drag-Superstar, lange vor RuPaul, und wurde in Filmen wie „Hairspray“ von John Waters bekannt. Er bzw. sie veröffentlichte Anfang der 80er Jahre auch einige Disco-Tracks, die heute als Klassiker gelten.
Parallel dazu nutzte Madonna ihre immense Popularität, um sexuelle Selbstbestimmung, auch weibliche, als Machtfaktor zu inszenieren. Sie spielte mit lesbischen Fantasien, Genderrollen, kirchlichen Symbolen und zementierte damit einen Pop-Feminismus, der bis heute nachwirkt. Ihre stilistischen Provokationen wären ohne die queere Subkultur der New Yorker 80er Jahre undenkbar gewesen, der sie mit „Vogue“ ein Denkmal setzte.
Sie setzte Queerness allerdings nicht nur als PR-Trick ein, sondern wurde in den 80ern zu einer der wichtigsten Stimmen der AIDS-Bewegung, die gegen eine Ausgrenzung von erkrankten Menschen und für Aufklärung kämpfte. Und machte sich damit nicht nur Freunde.
In den 1990ern bekannten sich erste Künstlerinnen wie Melissa Etheridge und k.d. lang ganz offen zu ihrer Homosexualität. Sie waren die ersten weiblichen Rockmusikerinnen, die lesbische Liebe nicht nur privat, sondern auch öffentlich und in ihren Songs thematisierten. In einer Zeit, in der das Coming-out noch immer Karrieren beenden konnte, war das ein politischer Akt.
Queerness als permanenter Impulsgeber
Diese Liste ließe sich mühelos erweitern. Grace Jones, deren androgyne Ästhetik stilbildend war und heute von Künstlerinnen wie Lady Gaga oder Katy Perry kopiert wird. George Michael, der lange gegen die Zwänge der Öffentlichkeit kämpfte und sich nach seiner vom Boulevard ausgeschlachteten Verhaftung wegen sexueller Aktivitäten in einer Herrentoilette mit dem Lied „Outside“ humorvoll outete – und andere dazu ermutigte es ihm gleichzutun.
Skin von Skunk Anansie, die als schwarze, offen lesbische Musikerin bis heute eine Ausnahmeerscheinung in der Rockmusik bleibt. Elton John versuchte sein Privatleben lange zu schützen und heiratete sogar eine Frau, in seinem Werk war seine Queerness aber nicht zu übersehen.
In der Gegenwart stehen Künstler*innen wie Sam Smith, Janelle Monáe, Christine and the Queens oder Yungblud in dieser Tradition. Ihre Musik ist ebenso Ausdruck wie Manifest – für eine Identität, die nicht binär funktioniert, sondern fluide, politisch, verletzlich und stolz. Selbst ein Superstar wie Harry Styles spielt heute offensiv mit femininen Codes, trägt Röcke auf dem „Vogue“-Cover, lackierte Nägel und queerfreundliche Botschaften auf Welttournee, ohne sich selbst zu labeln.
Der Backlash: Reaktionäre Sehnsüchte nach alten Rollenbildern
Mit dem gesellschaftlichen Fortschritt wuchs über Jahre auch der Widerstand gegen das Aufbrechen von binären Geschlechterrollen. Vor allem in konservativen Milieus gibt es aktuell eine spürbare Rückbesinnung auf „klassische“ Rollenverteilungen. Einige prominente Boomer versuchen, die Erfolge der Emanzipation zu relativieren oder zurückzudrehen. Sie beklagen den vermeintlichen Verlust von Männlichkeit, Frauen „wüssten heute nicht mehr, was sie wollen“, die Gesellschaft sei „verwirrt“, Elon Musk fabuliert sogar, dass wir aussterben, weil niemand mehr hetero sei. Dahinter steckt weniger echte Sorge als vielmehr der Wunsch, die eigene privilegierte Position in einer Welt zu verteidigen, die sich längst verändert hat und in der man nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen kann, dass der Mann das Sagen hat, die Frau am Herd steht und Kinder großzieht.
Doch wer heute Gender-Debatten als „modischen Trend“ abtut, verkennt die Geschichte. Die Freiheit, sich als Frau, Mann oder weder noch zu definieren, war keine Laune, sondern das Ergebnis eines jahrzehntelangen Kampfes, der mit dem Aufstand schwarzer transsexueller Künstlerinnen vor 55 Jahren in der New Yorker Christopher Street begann. Dort wehrten sich die Besucher*innen des Stonewall Inn erstmals gegen die Attacken der Polizei und sorgten für weltweite Proteste für queere Gleichberechtigung. Die rechtliche Gleichstellung, das Ende von Diskriminierung in Job, Familie oder Partnerschaft, all das ist nicht selbstverständlich. Und diese Errungenschaft muss verteidigt werden.
Pride Month: Symbol der Sichtbarkeit und Solidarität
Der Juni steht seit 1969 weltweit im Zeichen des Pride Month. Eine Zeit, die daran erinnert, dass queere Menschen immer noch täglich mit Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt konfrontiert sind. Auch in einem Land wie Deutschland, in dem die rechtliche Gleichstellung weitgehend erreicht ist, sind queere Jugendliche überdurchschnittlich häufig von Mobbing und Gewalt betroffen, Trans-Personen kämpfen mit medizinischer wie gesellschaftlicher Ablehnung, Regenbogenfamilien werden regelmäßig in Frage gestellt. In Bad Freienwalde wurde vor einigen Tagen ein CSD von Nazis niedergeknüppelt, eine Szene wie aus dem Mittelalter.
Pride bedeutet nicht nur Feiern, sondern auch Kampf. Gegen den Rechtsruck, gegen Ignoranz, gegen das Verschweigen. Denn dort, wo queere Menschen angegriffen werden – verbal, medial oder körperlich –, ist es Aufgabe der Gesellschaft, nicht zuzusehen, sondern mit ihnen auf die Straße zu gehen. Es reicht nicht, tolerant zu sein. Es braucht physische Präsenz.
„Wir sind mehr“: Verantwortung tragen, nicht nur zuschauen
„Wir sind mehr“ war ein Slogan gegen rechte Gewalt, gegen Fremdenhass, gegen Ausgrenzung. Dieser Satz gilt auch für den Schutz sexueller und geschlechtlicher Minderheiten. Es geht um ein Miteinander, das auf Respekt basiert. Nicht um Meinungen, oder Lifestyles sondern um Menschenrechte.
Der Pop hat schon vor Jahrzehnten gezeigt, wie vielfältig Identität sein kann und dass es die Gesellschaft nach vorne bringt, wenn man auch gegen Widerstände seine Stimme erhebt und Flagge zeigt. Jetzt liegt es an uns, das nicht nur zu feiern, sondern zu verteidigen.
Wer kann, sollte – unabhängig von seiner eigenen sexuellen Orientierung – zum nächsten CSD in seiner Umgebung fahren. Nicht nur in Berlin, sondern vor allem auch in kleineren Städten wie Cottbus, Suhl, Passau oder Gießen. Flagge zeigen bedeutet nicht nur, eine bunte Fahne zu tragen, sondern Haltung zu zeigen. Gegen den Angriff von rechts. Für die Freiheit. Für die Menschenwürde. Für alle.
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