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Lola Young – “I’m Only Fucking Myself” (Album 2025)

Mit gerade einmal 24 Jahren veröffentlicht Lola Young bereits ihr drittes Album. I’m Only Fucking Myself ist ein ungeschöntes, wütendes und oft verstörend ehrliches Werk, das sich konsequent jeder musikalischen Kategorisierung entzieht.

Bekannt wurde die Musikerin aus Süd-London 2024 über TikTok, als ihr Song „Messy“ viral ging – ein ironisch-melancholischer Hit über emotionale Zerrissenheit. Das neue Album knüpft daran an, führt das Chaos jedoch deutlich weiter. Young singt radikal offen über Sex, Drogen, toxische Beziehungen und psychische Erkrankungen.

I’m Only Fucking Myself ist musikalisch so vielschichtig wie seine Themen. Grunge-Gitarren treffen auf Synthpop, Shoegaze auf Trap, fragile Balladen auf noisige Ausbrüche. Es gibt keine klare Linie, stattdessen eine bewusste Überforderung, die sich wie ein Spiegel der inneren Zustände liest. Young wechselt dabei nicht nur die Genres, sondern auch permanent die Perspektiven: Mal dominiert wütender Trotz, dann wieder zarte Verletzlichkeit oder ironische Distanz.

Besonders deutlich wird das im Song „D£aler“. Der Track kombiniert elektronische Beats mit einer fast verspielten Melodie, während der Text eine gescheiterte Beziehung zu einem Drogendealer beschreibt. Dass so ein Thema selten im Pop behandelt wird, liegt nicht daran, dass es keine entsprechenden Erfahrungen gibt, sondern daran, dass kaum jemand bereit ist, sich so offen damit auseinanderzusetzen wie Young.

In „Post Sex Clarity“ wiederum zeigt sich eine andere Seite. Hier verwandelt Young körperliche Nähe in eine fragile, fast depressive Reflexion über Intimität. Die Line „I want you to trickle right down my throat“ ist explizit, aber ohne jede Lustaufladung, eher wie ein Versuch, emotionale Leere mit körperlicher Nähe zu füllen. Der Song ist reduziert, melancholisch und einer der berührendsten des Albums.

Weitere Höhepunkte wie „SAD SOB STORY :)“ oder „CAN WE IGNORE IT :(“ variieren das Motiv der inneren Zerrissenheit. Ersterer ist ein zurückhaltender, fast soulartiger Track, in dem Young von einer toxischen Beziehung erzählt, die sie von ihren engsten Freundschaften isoliert hat. Letzterer geht musikalisch wie textlich an die Schmerzgrenze: ein krachender, fast chaotischer Track mit fragmentierten Beats und nervösem Gesang, der sich weigert, emotionalen Halt zu geben.

Ihre Stimme ist das verbindende Element. Sie singt nicht, um zu gefallen, sondern um etwas loszuwerden. In einem Moment klingt sie wie eine britische Version von Fiona Apple, im nächsten wie eine punkige Soul-Sängerin mit R&B-Einschlag. Diese Unberechenbarkeit ist kein Effekt, sondern Ausdruck einer Identität, die sich nicht beruhigen oder einordnen lässt.

Acht der zwölf Tracks auf dem Album tragen das „Explicit“-Label. Sexualität ist in Youngs Musik präsent, aber nicht im Sinne von Erotik oder Verführung, sondern als Schutzmechanismus, als Maske. In Interviews spricht sie offen darüber, wie sie über sexuelle Erlebnisse schreibt, um tiefere Gefühle wie Schmerz, Angst oder Wut zu verarbeiten. Die Körperlichkeit wird zur Sprache für das, wofür es sonst keine Worte gibt.

Persönlich, aber nicht privat

Trotz aller Offenheit wahrt I’m Only Fucking Myself eine gewisse Distanz. Young lässt ihr Publikum nah an sich heran, aber nie ganz hinein. Die Geschichten, die sie erzählt, sind persönlich, aber nicht exhibitionistisch. Sie gibt Einblicke in ihre Psyche, ohne sie zur Schau zu stellen. Gerade in den leiseren Momenten wird deutlich, dass sich hinter der rohen Fassade ein komplexes Innenleben verbirgt.

Am Ende des Albums steht ein reduzierter Akustiksong, in dem Young ihre schizoaffektive Störung thematisiert und von Medikamenten erzählt, die sie seit ihrer Jugend nimmt. Es ist ein stiller Schlusspunkt, der den Lärm und die Aggression des Albums nicht relativiert, sondern in einen größeren Zusammenhang stellt. Wer genau hinhört, erkennt, dass es Young nicht nur ums Dampfablassen geht, sondern um Selbstschutz, Selbstbehauptung und letztlich auch um Heilung.

Keine Kompromisse

I’m Only Fucking Myself ist kein einfaches Album. Es verlangt Aufmerksamkeit, Bereitschaft zur Reibung und ein gewisses Maß an Frustrationstoleranz. Wer nur auf der Suche nach dem nächsten “Messy” ist wird hier nicht fündig. Doch wer sich auf die emotionale wie musikalische Radikalität einlässt, entdeckt eine Künstlerin, die sich konsequent jedem Erwartungsdruck entzieht.

Lola Young – Biografie

Lola Young wird 2001 in Croydon geboren, einem Stadtteil im Süden Londons. In einem multikulturellen Umfeld aufgewachsen, kommt sie früh mit Musik, Literatur und Performance in Kontakt. Bereits als Kind beginnt sie, eigene Songs zu schreiben, inspiriert von Soul, Hip-Hop, Singer-Songwriter-Traditionen und britischem Pop. Mit 13 steht sie erstmals auf der Bühne, mit 17 wird sie an der BRIT School aufgenommen – einer Talentschmiede, die auch Künstlerinnen wie Amy Winehouse, Adele und FKA twigs hervorgebracht hat.

Erste EPs und musikalische Orientierung

2019 veröffentlicht Lola Young ihre erste EP Intro. Die Songs sind reduziert instrumentiert, getragen von ihrer tiefen, rauen Stimme und einer ungewöhnlichen Direktheit in den Texten. Noch im selben Jahr folgen zwei weitere Projekte: Renaissance – eine Live-EP aus den Abbey Road Studios – und After Midnight, eine dreiteilige Songserie über das nächtliche Gefühlschaos nach Trennungen.

Ihre frühe Musik bewegt sich stilistisch zwischen Neo-Soul, akustischem Pop und klassischem Storytelling. Schon hier zeigt sich ein Grundzug ihres Schaffens: die konsequente Weigerung, sich einem bestimmten Genre oder einer klaren Popformel zu unterwerfen.

Das Debütalbum Intro (2021)

Nach mehreren Einzelsongs und EPs erscheint im Jahr 2021 ihr Debütalbum, das erneut den Titel Intro trägt – ein bewusster Rückgriff auf die erste EP und eine Art Neustart im Langspielformat. Die Produktion ist weiterhin zurückhaltend, rückt Youngs Stimme in den Mittelpunkt und verzichtet auf auffällige Effekte oder Trends. Thematisch stehen Selbstzweifel, emotionale Unsicherheit und Beziehungsdynamiken im Vordergrund.

Das Album wird in Großbritannien positiv aufgenommen, bleibt international aber noch weitgehend unter dem Radar. Young etabliert sich als eigenständige Songwriterin mit starker Bühnenpräsenz und einem auffälligen Gespür für sprachliche Pointen.

Erste Experimente und größere Aufmerksamkeit

Im Jahr 2022 erscheinen vereinzelte Singles, in denen sich Young erstmals stilistisch öffnet. Songs wie „FAKE“ oder „So Sorry“ arbeiten mit elektronischeren Klangfarben, zeigen mehr Produktionsvielfalt und legen den Grundstein für die experimentellere Phase, die folgen soll.

2023 erscheint ihr zweites Album My Mind Wanders and Sometimes Leaves Completely, ein sperriger, fragmentarischer Titel, der das musikalische Konzept gut beschreibt. Die Songs sind brüchiger, die Strukturen offener, die Stimmungen düsterer. Grunge-Gitarren treffen auf R&B-Versatzstücke, zwischen Shoegaze, Lo-Fi und emotionalem Pop entsteht ein Sound, der sich bewusst jeder Einordnung entzieht.

Thematisch geht es um mentale Desorientierung, um das Schwanken zwischen Selbstaufgabe und Selbstbehauptung, um Drogen, Sex, Trauer und Verlorenheit. Die Produktion ist kantiger, die Texte noch direkter.

Viralhit auf TikTok: „Messy“ (2024)

Im Jahr 2024 geht der Song „Messy“ auf TikTok viral – ein Track, der bereits zuvor veröffentlicht wurde, aber durch die Plattform plötzlich neue Reichweite bekommt. Die Zeile „Cause I’m too messy, and then I’m too fucking clean“ wird hunderttausendfach zitiert, unter anderem von Kylie Jenner, und bringt Lola Young erstmals ein größeres, internationales Publikum.

Offener Umgang mit psychischer Gesundheit

Lola Young spricht in Interviews offen über ihre psychische Gesundheit. Schon im Teenageralter wird bei ihr eine schizoaffektive Störung diagnostiziert, eine Form psychischer Erkrankung, die Symptome von Depressionen, Manie und Psychosen kombiniert.

Anstatt diese Diagnose zu tabuisieren, thematisiert sie sie regelmäßig in ihrer Musik. Ohne Pathos, ohne Dramatisierung, sondern als Teil ihrer Biografie, die sie künstlerisch verarbeitet. Dabei geht es nicht um Selbstinszenierung, sondern um Selbstverständlichkeit: Psychische Instabilität ist kein Image, sondern Realität, die Sprache und Ausdruck findet.

Lola Young lässt sich weder stilistisch noch biografisch auf eine einfache Formel bringen. Ihre musikalischen Einflüsse reichen von Amy Winehouse, Nirvana und Frank Ocean bis hin zu Raye oder PJ Harvey. Doch statt sich an Vorbildern zu orientieren, nutzt sie diese als Sprungbrett für einen eigenen Klang.

Die ständige Bewegung zwischen Genres, Stimmungen und Ausdrucksformen gehört zu ihrem Selbstverständnis. Ihre Musik ist mal soulig, dann noisig, mal introvertiert, dann übergriffig laut. Es gibt keine Mitte, nur Extreme und genau darin liegt ihr Wiedererkennungswert.


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