ALBUM DER WOCHE – Mit Goodbye Small Head veröffentlicht Ezra Furman ihr zehntes Studioalbum, das den Zustand der Welt nicht nur kommentiert, sondern auf drastische Weise in sich aufnimmt.
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Zwischen gesellschaftlicher Unsicherheit und individueller Verzweiflung, politischem Druck und innerer Suche erzählt Furman von einem Leben unter Beobachtung, in Angst, aber auch mit Hoffnung. Was sie daraus macht, ist ein schonungslos offenes, musikalisch vielschichtiges Album, das seine Wucht aus der Reibung zwischen Fragilität und Stärke bezieht.
Furman hat sich schon immer als musikalische Grenzgängerin verstanden. Auf Goodbye Small Head bringt sie ihre beiden Hauptadern – energiegeladener Rock’n’Roll und erzählerisch geprägter Folk – in neue, komplexere Bahnen. Elektronische Elemente fügen sich organisch ein und ein ausdrucksstarkes Streichensemble zieht sich wie ein roter Faden durch viele der Songs. Damit knüpft sie an das theatralisch-opulente Transangelic Exodus (2018) an, erweitert den Klangkosmos aber um eine deutlich experimentellere Note.
Der Opener Grand Mal ist ein gutes Beispiel für diese neue Musikalität. Eine Art wiegender Fiebertraum mit orchestraler Weite, verfremdeten Stimm-Schnipseln und einem Text, der einen epileptischen Anfall beschreibt – sinnlich, erschreckend und doch seltsam tröstlich. Diese Ambivalenz zieht sich durch das gesamte Album.
You Mustn’t Show Weakness zählt zu den experimentellsten Momenten der Platte: ein düsterer Hybrid aus gebrochenem Drumbeat, elegischem Cello und geisterhaftem Gesang. Hier hört man Furman fast atemlos, gefangen zwischen Selbstdisziplin und Panik, ein innerer Monolog im Angesicht äußerer Bedrohung.
Politisches Statement und persönliche Offenbarung
Goodbye Small Head erscheint in einer Zeit, in der sich die Lebensrealität für trans* Personen in den USA und Großbritannien zunehmend verschärft. Auch hierzulande suchen sich die Rechtsradikalen ausgerechnet die kleinste Minderheit, um künstlich ein Feindbild aufzubauen, gegen das die selbsternannten „Normalgebliebenen“ mobilisiert werden können. Furman verarbeitet diese politische Gegenwart nicht abstrakt, sondern auf radikal intime Weise. Sie zeigt sich verletzlich, verzweifelt, wütend, aber nie resigniert.
Am eindringlichsten wird das auf dem Cover von Alex Waltons I Need An Angel, das als letzter Track das Album beschließt. Furmans Stimme ist brüchig, fast erschöpft, eine Mischung aus Weinen, Lachen, Flehen, während sich eine mitreißende Rock-Instrumentierung über sie erhebt. Diese letzten Minuten wirken wie ein Exorzismus, ein bittersüßer Abschied von der Hoffnung, alles kontrollieren zu können.
Trotz aller Dunkelheit ist Goodbye Small Head kein Album der Kapitulation. Vielmehr zieht es seine Kraft aus der Entscheidung, trotz Kontrollverlust weiterzumachen und im besten Fall sogar zu wachsen. Furman selbst nennt ihre Songs „triumphant in their wounded way“, triumphierend in ihrer Verwundung. Das trifft es ziemlich genau.
In A World Of Love And Care fragt sie, fast flehend: „Human dignity was supposed to be a guarantee for all / Who gets left out of your dreams of a good society?“ Es sind Fragen, die heute viele stellen, aber kaum jemand mit solcher Klarheit und Eindringlichkeit formuliert. Die orchestrale Wucht des Songs kontrastiert mit seiner nüchternen Bilanz: Die Idee einer gerechten Gesellschaft ist brüchig, besonders für jene, die am Rand stehen. Doch allein die Formulierung dieser Wahrheit ist ein Akt des Widerstands.
Ezra Furman hat nie vorgegeben, Antworten auf die großen Fragen des Lebens zu haben. Aber mit Goodbye Small Head schafft sie einen Raum, in dem Fragen gestellt werden dürfen – laut, unsicher, fordernd. Es ist ein Ort für jene, die sich in klassischen gesellschaftlichen Erzählungen nicht wiederfinden, ein Soundtrack für all jene, die sich gleichzeitig ohnmächtig und voller Wut fühlen.
Ein Album, das gerade wegen seiner Brüchigkeit berührt und das auf tragische Weise zur richtigen Zeit erscheint.
Ezra Furman – Biografie
Ezra Furman wurde 1986 in Chicago geboren und wuchs in einem jüdischen Elternhaus auf, das ihr frühes Interesse an Musik ebenso nährte wie ihre Suche nach Identität. Bereits während ihrer Studienzeit an der Tufts University gründete sie mit Kommilitonen ihre erste Band Ezra Furman and the Harpoons, die zwischen 2006 und 2011 mehrere Alben veröffentlichte. Früh zeigte sich dabei Furmans Vorliebe für klassisch-amerikanische Songstrukturen – beeinflusst von Größen wie Lou Reed, Bob Dylan oder Patti Smith – kombiniert mit einer wütenden Dringlichkeit, die ihren Stil bis heute prägt.
Nach der Auflösung der Harpoons begann sie ihre Solokarriere. Mit dem 2012 erschienenen Album „The Year of No Returning“ markierte sie nicht nur einen musikalischen Neubeginn, sondern auch eine zunehmende Öffnung in persönlichen Fragen. Ihre Musik wurde expressiver, emotionaler, politischer. Ab 2013 spielte sie regelmäßig mit ihrer neuen Begleitband The Boy-Friends, später umbenannt in The Visions, mit denen sie mehrere Tourneen absolvierte.
Künstlerische Entwicklung und politische Positionierung
Mit dem Album „Perpetual Motion People“ (2015) gelang Furman der internationale Durchbruch. Songs wie Restless Year oder Lousy Connection verbanden energiegeladenen Garagenrock mit introspektiven Texten und einer spürbaren existenziellen Dringlichkeit. In Interviews zeigte sich Furman zunehmend offen über ihre jüdische Identität, ihre Erfahrungen mit Genderdysphorie und die politische Verantwortung, die sie als Künstlerin sieht.
2018 folgte mit „Transangelic Exodus“ ein Konzeptalbum, das nicht nur musikalisch ambitioniert war – mit opulenten Arrangements und einer dichten Atmosphäre –, sondern auch eine queere Fluchtgeschichte im dystopischen Amerika erzählte. Das Werk wurde vielfach als Meilenstein gefeiert und festigte Furmans Ruf als unerschrockene Chronistin gesellschaftlicher Risse.
Mit ihrer Musik zur Netflix-Serie „Sex Education“ (2019–2021) erreichte sie ein neues, breites Publikum. Ihre Songs begleiteten die Serie nicht nur atmosphärisch, sondern bildeten einen emotionalen Resonanzraum für die dort verhandelten Themen rund um Sexualität, Identität und Selbstfindung.
Identität, Religion und Öffentlichkeit
Ezra Furman versteht sich offen als trans* Frau und queer, eine Positionierung, die sie in einer zunehmend polarisierten Öffentlichkeit bewusst mitträgt. In Essays, Interviews und Social-Media-Beiträgen spricht sie regelmäßig über ihre Erfahrungen als trans* Künstlerin, über religiöse und spirituelle Fragen – etwa ihre enge Bindung zum Judentum – und über den Zusammenhang zwischen Kunst und Aktivismus. Dabei sieht sie sich nicht als „Sprachrohr“, sondern als Teil einer vielstimmigen Bewegung, in der Sichtbarkeit eine Form von Widerstand sein kann.
Furman lebt derzeit mit ihrer Familie in Massachusetts. Neben ihrer Musikkarriere veröffentlichte sie 2021 das Buch „Transformer“ in der 33 ⅓-Reihe, eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Lou Reeds gleichnamigem Album, das sie als prägenden Einfluss nennt.
Zwischen Anarchie und Empathie
Ezra Furmans Werk steht exemplarisch für eine neue Generation von Musiker:innen, die sich nicht auf Genres, Identitäten oder Narrative festlegen lassen. Ihr Schaffen ist durchzogen von Brüchen und Widersprüchen – musikalisch wie biografisch –, und gerade darin liegt seine Kraft. Mit Goodbye Small Head liefert sie nun ein Album, das alle bisherigen Etappen ihrer Karriere bündelt: von der ungestümen Energie früher Tage bis hin zur orchestrierten Melancholie und politischen Dringlichkeit der Gegenwart.
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