Die deutsche Musikszene hat eine ihrer wichtigsten Figuren verloren: Alfred Hilsberg, der die Punk- und New-Wave-Bewegung entscheidend prägte und der Subkultur ein Zuhause gab, ist am 18. August 2025 in Hamburg im Alter von 77 Jahren verstorben.
Hilsberg war mehr als nur ein Musikmanager, er war ein Wegbereiter und Vordenker, dessen Einfluss auf die deutsche Popkultur kaum zu überschätzen ist.
Geboren wurde Alfred Hilsberg im Jahr 1947 in Wolfsburg, einer Stadt, die für ihn die Verkörperung des industriellen Nachkriegs-Deutschlands darstellte. Er empfand eine tiefe Entfremdung von dieser Umgebung und fand seinen Weg nach Hamburg, wo er 1968 ankam. Dort tauchte er in die florierende alternative Szene der Hansestadt ein.
Hilsberg wurde in jenen Jahren nicht nur zu einem Beobachter, sondern zu einem aktiven Gestalter, der frühzeitig die Bedeutung von Selbstorganisation und unabhängigen Strukturen erkannte. Diese Erfahrung prägte seine spätere Arbeit maßgeblich. Ein entscheidender Schritt in seiner Laufbahn war seine Tätigkeit als Geschäftsführer der „Filmmacher Cooperative“ in Hamburg, wo er lernte, wie Künstler unabhängig abseits etablierter Verwertungsmechanismen agieren konnten.
Die späten 1970er Jahre waren für die deutsche Musiklandschaft eine Zeit des Umbruchs. Der angloamerikanische Rock und Pop dominierte die Charts, doch Hilsberg war einer der ersten, der diese aufkommende Energie spürte und in Worte fasste. Er begann für das einflussreiche Musikmagazin Sounds zu schreiben, das in dieser Zeit als wichtigstes Sprachrohr für progressive und alternative Musik in Deutschland galt.
Seine Artikel waren mehr als nur Rezensionen, sie waren Analysen der musikalischen und sozialen Entwicklungen. Im März 1978 veröffentlichte er seinen legendären Artikel „Rodenkirchen is burning“, in dem er die aufstrebende Punkszene in Köln und Düsseldorf in den Fokus rückte.
Er beschrieb eine Szene, die sich aus dem Nichts formierte, um der vermeintlichen Leere der Rockmusik entgegenzutreten. Ein Jahr später, im Jahr 1979, prägte er in einem weiteren Sounds-Artikel den Begriff „Neue Deutsche Welle“. Hilsberg nutzte diese Bezeichnung, um die deutsche Musik zu beschreiben, die sich von den internationalen Einflüssen löste und eine eigene, oft provokante Identität entwickelte. Er sah darin eine Befreiung von den Klischees der Vergangenheit, eine Revolution, die nicht mit Waffengewalt, sondern mit Synthesizern, verzerrten Gitarren und einer neuen Haltung stattfand.
Hilsberg, der aus dem linksintellektuellen Milieu kam, verstand diese neue Musik als eine Fortsetzung des politischen Aufbruchs mit anderen Mitteln. Er lehnte die spätere Kommerzialisierung der Neuen Deutschen Welle durch Acts wie Trio oder Nena vehement ab, da er sie als Verrat an den ursprünglichen, radikalen Idealen betrachtete. Seine Definition von NDW war weniger auf musikalische Stile als vielmehr auf eine gemeinsame Haltung ausgerichtet: das D-i-Y-Prinzip (Do it yourself), die Abkehr von der Musikindustrie und die Schaffung eigener Strukturen.
Im Jahr 1980 folgte dann der logische nächste Schritt, die Gründung des eigenen Plattenlabels Zickzack. Hilsberg schuf damit die wichtigste Plattform für die deutsche Subkultur der frühen 1980er Jahre. Das Label war anfangs ein kleines Unterfangen, das im Stil eines Fanzines funktionierte und Kassetten sowie Schallplatten in Kleinauflagen veröffentlichte. In den ersten fünf Jahren erschienen über 100 Tonträger.
Zickzack wurde zur Heimat für eine beeindruckende Bandbreite an Künstlern, die das Spektrum der deutschen Underground-Szene abbildeten. Dazu gehörten die Hamburger Post-Punk-Band Abwärts, die Industrial-Pioniere Einstürzende Neubauten, die Düsseldorfer EBM-Gruppe Die Krupps sowie experimentelle Künstler wie Die Tödliche Doris aus Berlin. Auch Die Goldenen Zitronen, FSK und zahlreiche andere Acts fanden bei ihm eine erste Heimat.
Das von ihm selbst als „Zickzack-Prinzip“ bezeichnete Konzept, das er auch in einem Buch festhielt, beschrieb eine bewusste Unbeständigkeit, eine ständige Weiterentwicklung und eine Abkehr von starren Genres. Hilsberg wollte vermeiden, dass sich sein Label auf eine bestimmte musikalische Formel festlegte, da dies seiner Meinung nach Stillstand bedeuten würde. Er war stets auf der Suche nach dem Neuen, dem Ungewohnten, dem, was das Etablierte herausforderte. Er war ein Kurator der Subkultur, der sich nicht von Verkaufszahlen, sondern von künstlerischer Substanz leiten ließ.
„Das beste Label der Welt, mit der schlechtesten Zahlungsmoral der Welt.“ (Xao Seffcheque bei FM4 über Zick Zack)
Nach dem Höhepunkt der Neuen Deutschen Welle und dem Rückgang der Punk-Bewegung in ihrer ursprünglichen Form, gründete Hilsberg 1985 ein weiteres Label, What’s So Funny About. Mit diesem Namen, der an einen Satz aus einem Song der Talking Heads angelehnt ist, signalisierte er, dass sein Humor und seine Ironie ungebrochen waren.
Unter diesem neuen Label förderte er eine weitere Generation von Bands, die später als Teil der Hamburger Schule bekannt wurden. Er veröffentlichte die frühen Alben von Blumfeld, einer Band, die wie keine andere für das intellektuelle und oft introvertierte Songwriting der Hamburger Schule stand. Aber auch Bands wie Mutter, Jingo de Lunch oder Ougenweide fanden bei ihm eine Heimat. Hilsberg blieb seiner Rolle als Wegbereiter treu und verschaffte einer Musik Gehör, die abseits der großen Plattenfirmen keine Chance gehabt hätte. Das tat er teilweise mit sehr unkonventionellen Mitteln und brachte damit Musikjournalisten und Musiker zur Weißglut.
„Alfred war irgendwie unser Vater .
Wir haben viel von ihm gelernt .
Wir wollten alles anders machen.
Wir haben ihn bewundert.
Er hat tolle Geschichten erzählt.
Wunderbare Theorien gesponnen.
Er war so nervig.“Carol von Rautenkranz (Labelbetreiber von L’Age D’Or) via Linkedin
Trotz seines unbestreitbaren Einflusses war die Arbeit mit Alfred Hilsberg oft von Komplikationen geprägt. Seine kompromisslose Art und sein Fokus auf die Kunst führten gelegentlich zu Spannungen. Anekdoten aus der Szene erzählen von seiner schwierigen Persönlichkeit, seiner Eigenwilligkeit und von seiner chaotischen Art, Geschäfte zu führen.
Er galt als „Punk-Papst“ und „Visionär“, doch er selbst lehnte diese Superlative ab, da er sie als kommerzielle Labels für eine Bewegung sah, die er nie als solche verstand. Er sah sich als jemand, der die Verhältnisse zum Platzen bringen wollte, der sich gegen die Konventionen der Musikindustrie stellte, um eine andere Welt, eine Welt des künstlerischen Ausdrucks und der Freiheit, zu schaffen.
Hilsberg, der in den letzten Jahren seltener in der Öffentlichkeit auftrat, war eine Schlüsselfigur, deren Geist in vielen Aspekten der heutigen Independent-Musik fortlebt. Er ebnete den Weg für eine unabhängige Kultur, die sich nicht an kommerziellen Erfolgskriterien messen ließ, sondern an ihrer Fähigkeit, etwas Neues, Echtes und Unerwartetes zu schaffen.
Veröffentlichungen auf Zickzack (Auszug)
- Abwärts, Amok (1981)
- Einstürzende Neubauten, Kollaps (1981)
- Palais Schaumburg, Palais Schaumburg (1981)
- Die Tödliche Doris, Die Tödliche Doris (1981)
- Die Krupps, Stahlwerksinfonie (1981)
- Wirtschaftswunder, Salmobray (1980)
- Kosmonautentraum, Juri Gagarin (1981)
- Die Radierer, Eisbären & Zitronen (1980)
- F.S.K., Sturm auf die Wüste (1980)
- Nachdenkliche Wehrpflichtige, Politik für junge Leute (1980)
- Geisterfahrer, Geisterfahrer (1981)
- Die Zimmermänner, 1001 Wege Sex zu machen ohne daran Spaß zu haben (1982)
- Xmal Deutschland, Fetisch (1983)
- Andreas Dorau, Die Doraus und die Marinas (1981)
- Kosmonautentraum, Angst ist mein König (1981)
- Abwärts, Der Computerstaat (1981)
- Siluetes 61, Überrollt (1981)
- Mekanik Destrüktiw Komandöh, Die Kriegserklärung (1983)
- Die Goldenen Zitronen, Die Goldenen Zitronen (1987)
- Palais Schaumburg, Das Single Kabinett (1983)
Veröffentlichungen auf What’s So Funny About (Auszug)
- Blumfeld, Ich-Maschine (1992)
- Mutter, Das erste Lied vom Tod (1989)
- Die Erde, Komm zur Mutter (1989)
- Cpt. Kirk &, S*K (1991)
- Die Sterne, Inselmusik (1992)
- Jingo de Lunch, B.Y.O.B. (1987)
- Knarf Rellöm, Knarf Rellöm (1991)
- Ougenweide, Sol (1988)
- Blumfeld, L’État et moi (1994)
- Saalschutz, Das ist nicht mein Problem (1998)
- Mutter, Mutter (1992)
- Die Haut, Sweat (1994)
- Jens Friebe, Vorher/Nachher Bilder (2007)
- Blumfeld, Jenseits von Jedem (2003)
- Mutter, Damon’s (1996)
- Couch, Ein schönes Wochenende (1995)
- Jens Friebe, In Hypnose (2005)
- Woog Riots, Woog Riots (2005)
- Rummelsnuff, Halt durch! (2008)
- Candelilla, Candelilla (2010)
- Doctorella, Ich will alles von dir wissen (2016)
- The Schwarzenbach, The Schwarzenbach (2010)