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20 Jahre Tonspion: „Der Blueprint eines neuen Musikmediums“

Im November 1999 hat Archive.org die erste Version von Tonspion als Snapshot für die Nachwelt archiviert. Aus einem Hobbyprojekt des Musikers Udo Raaf wurde der erste Musikblog Deutschlands – und hat heute mehr Leser denn je. Wir schauen nostalgisch zurück mit einer epischen Playlist mit Musik, die den Tonspion seit 1999 prägte.

Der Musikjournalismus lebt, Print ist schon lange tot

„Musikjournalismus ist tot“, so hört man seit Jahren aus allen Ecken, am häufigsten von ehemaligen Musikjournalisten. Und im Fall des Printjournalismus ist das sicher auch richtig. Neben ein paar vom Springer Verlag (noch) subventionierten Blättern (Musikexpress, Rolling Stone, Metal Hammer) gibt es heute eigentlich keine Chance mehr, ein Printheft über Musik rentabel zu betreiben. Die Budgets sind heute online – und sie werden nicht mehr zurückkommen. 

Doch es gibt überhaupt keinen Grund für Gejammer: Mit über 400.000 Lesern im Monat erreichen wir heute ein Vielfaches der Printmagazine zur Blüte ihres Geschäfts in den 90er Jahren! Alle Online Musikmagazine erreichen viel mehr Menschen als Printmagazine früher. Die Menschen sind dank Internet informierter und der Musikgeschmack im Land diverser denn jemals zuvor.

Wenn ich mich heute vorstelle, höre ich immer noch häufig „früher habe ich mir immer bei euch Musik runtergeladen“. Eine ganze Generation musikinteressierter Menschen scheint Anfang der 00er Jahre ein kleines Stück weit mit Tonspion musikalisch aufgewachsen zu sein, einfach, weil es sonst nicht viel gab zum Thema Musik in Neuland.

Während wir anfangs noch eine Lücke füllten – es gab damals so gut wie keine Musik legal online und wir mussten jeden einzelnen Song umständlich von den Labels freigeben lassen – sortieren und filtern wir heute den Überfluss. Beides ist wichtig. Niemand kann noch all die Musik hören, die Woche für Woche auf den Streamingplattformen veröffentlicht wird. Und wer seine Playlists einem Algorithmus überlässt, dem ist auch nicht mehr zu helfen. 

Auch uns gelingt das Hören und Sortieren von unzähligen Neuerscheinungen heute nur noch mithilfe von spezialisierten Promo-Plattformen, die uns ermöglichen neue Musik zu entdecken, die noch keiner kennt. Unsere Mailbox ist heillos überflutet und es ist schlicht gar nicht mehr machbar, alles zu hören, was an uns herangetragen wird. 

TONSPION MEILENSTEINE 1999 – 2019

Über die Jahre haben wir tausende Künstler vorgestellt in Form von kostenlosen MP3 Downloads oder Playlisten. Die für uns wichtigsten und wegweisenden Songs haben wir in eine epische Jubiläumsplaylist gepackt, 15 Stunden Musik aus 20 Jahren Tonspion in einer Playlist!

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Social Media: Fluch und Segen

Doch der Überfluss im Netz hat auch seine Schattenseiten: die Budgets der Musikbranche fließen heute nicht mehr in Musikinhalte von redaktionellen Magazinen und Blogs, sondern überall hin. Und versickern dabei auf völlig unfruchtbarem Boden.

Unsere Konkurrenz heißt heute nicht Spex, Intro oder Musikexpress, sondern Facebook, Instagram, Google und Youtube. Dort landet der Großteil der Werbegelder und entsprechend gibt es heute auch so gut wie keine Chance mehr, ein relevantes Musikmedium aufzubauen, wenn man nicht schon über eine riesige Reichweite verfügt, um all das mit langem Atem refinanzieren zu können. Selbst ein Musikmagazin mit 400.000 Lesern im Monat ist kein Selbstläufer im Internetzeitalter, so unglaublich das auch klingen mag. In jeder anderen Branche hätte man mit so einer großen Reichweite ausgesorgt und wir wären als Influencer begehrt und umworben. Nicht so in der Musikbranche, die sich lange gegen das Internet gesperrt hat und nur notgedrungen die veränderten Bedingungen akzeptiert hat. „Hardware“ wie Tonträger zu verkaufen war einfach viel lukrativer als „Software“ wie Musik.

Dabei war es noch nie so wichtig und herausfordernd, sich durch den Dschungel der überall frei verfügbaren Musik zu kämpfen. Und das Gute, Schöne und Wahre sichtbar zu machen. Neue Musikangebote werden auch massiv genutzt, wie die seit Jahren steigenden Leserzahlen und Follower beweisen. Es gibt ein riesiges Bedürfnis nach Orientierung und Wegweisern, nach Angeboten, die eine Schneise in diesen Dschungel schlagen und es gibt viele neue Angebote auf dem Markt.

Doch oft flüchten sich diese neuen Musik-Anbieter in Social Media, wo sie zwar über reißerische Posts vergleichsweise schnell und einfach eine große Fangemeinde aufbauen können, doch diese Kanäle werden ihnen nie gehören und so werden auch diese Kanäle irgendwann wieder versiegen. So wie unser Facebook-Kanal, den wir über 10 Jahre aufgebaut haben und der heute trotz vieler „Fans“ für uns völlig bedeutungslos ist. Weil dort einfach niemand Musik hört. Erinnert sich noch jemand an MySpace? Es war ein Glück, nie auf die großen Plattformen zu vertrauen und sich abhängig zu machen, sondern immer nur unabhängig die eigene Website mit Inhalten zu bestücken, denn davon lebt der Tonspion bis heute. Und wächst langsam, aber stetig.

Social Media interessiert sich nicht für Musik

Es gibt auch heute noch viele gut gemachte und erfolgreiche Musikblogs, die mit tollen Inhalten und viel Liebe zur Musik zahlreiche Musikfans erreichen. Häufig auch dank persönlicher Beziehungen zu bekannten Stars, die beim Aufbau der Reichweite gerne mithelfen, wie im Fall des Musikmagazins Diffus, das sich mit Casper und Drangsal sogar prominente Podcaster an Bord geholt hat. Doch alle Musikmedien schöpfen ihre Budgets aus demselben trüben Teich. Und der ist heute weitgehend trockengelegt.

Es gibt keine Budgets mehr für redaktionelle Musikangebote und wenn, dann versickern diese irgendwo, aber nicht da, wo Musikjournalismus heute tatsächlich noch gebraucht werden würde.

Es gibt heute nicht mehr die Möglichkeit, mit einem großen Redaktionsteam Musikjournalismus alter Prägung zu machen. Diese Zeiten sind unwiederbringlich vorbei!

Musikjournalismus ist heute meistens nur noch Hobby, was man nebenbei machen kann. Wer Geld verdienen will oder muss macht etwas anderes. Früher festangestellte Musikjournalisten arbeiten heute für Agenturen, Tageszeitungen oder große Marken. Und schreiben nicht mehr über Musik. Auch uns sind über die Jahre wichtige Stimmen abhandengekommen, weil Familien gegründet wurden und der Musikjournalismus keine Perspektive bot.

Das ist ein Verlust, für uns und die Musikszene insgesamt. Einige wenige kommen bei den großen Tages- und Wochenzeitungen unter und bleiben der Musik treu, aber auch dort fristet der ambitionierte Pop-Journalismus ein Nischendasein. Schließlich leben alle nur von Klicks und die bekommt man mit allem möglichen, aber nicht mit anspruchsvoller Musik!

Wir haben uns im Tonspion über die Jahre mit den knappen Budgets arrangiert, uns trotzdem irgendwie etabliert und konnten durch unseren Bekanntheitsgrad und dank einiger Partnerschaften über die Jahre stetig wachsen. Selbst wenn die Budgets weiterhin überschaubar sind, als Plattform für Musik-Neuheiten funktioniert der Tonspion aber auch nach 20 Jahren so gut wie am ersten Tag.

Wir hatten viel Glück, damals zur richtigen Zeit im Netz zu starten. Es gab 1999 kaum Konkurrenz und viele große Musikmagazine wussten nichts mit dem neuen Medium anzufangen. Der Radiosender FM4 bezeichnete Tonspion gar als „Blueprint eines neuen Musikmediums“. Auch die Musikbranche war noch weit davon entfernt, Musik online zu verkaufen. 

Ohne diese riesige klaffende Marktlücke und den gravierenden Mangel an Musikangeboten im Netz hätten wir uns niemals durchsetzen können. Wer Anfang der 00er begann, nach Musik im Netz zu suchen, stieß damals zwangsläufig auf Tonspion. Heute kommt zu uns, wer neue Musik auf Google sucht. Das Prinzip „Tonspion“ funktioniert heute noch so gut wie damals.

1999 

Google war gerade 1 Jahr alt und ein Studentenprojekt

Napster ging als Tauschbörse an den Start

Schröder war gerade Kanzler geworden

Wir bezahlten noch mit D-Mark

Mark Zuckerberg war 15 Jahre alt und noch in der Highschool

Es gab noch kein iTunes (2001)

Es gab noch kein Spotify (2006)

Streamingabos waren für die Musikindustrie eine Zukunftsvision von ein paar Spinnern

Hatten wir Angst vor dem Millenium Bug, der alle Computer weltweit lahmlegen könnte

9/11, Trump und Klimakatastrophe war noch weit entfernt und die Zeichen der Zeit standen auf Weltfrieden

Warum der Musikjournalismus nie sterben wird

Dass der Tonspion bis heute so gut funktioniert hat vor allem zwei Gründe.

Erstens: der unendliche Strom herausragender Musik, der in 20 Jahren nicht abgeebbt ist. Trotz apokalyptischer Vorhersagen wird immer Musik gemacht, egal wie die kommerziellen Rahmenbedingungen aussehen. Tatsächlich bekommen wir heute viel mehr gute Musik als noch vor zehn Jahren. Das Internet und die einfache Verfügbarkeit von Musik hat die Musikszene klar bereichert.

Und zweitens: die offenen Ohren unserer Leser. Ohne eure Neugier, auch neuer Musik eine Chance zu geben und nicht immer nur den gleichen Kram zu hören ist das Lebenselixier von Tonspion und macht unseren Job zu einem Vergnügen. Immer noch und trotz allen Widrigkeiten.

Dafür herzlichen Dank und auf die nächsten 20!